Rückkehr nach Berlin: ich will doch nur wieder fechten

Alles, was ich in diesem Artikel schreibe, ist exemplarisch, beispielhaft und spielt sich überall in deutschen Vereinen und Verbänden ab. Es gibt meiner Meinung nach keine Beschränkung auf einzelne Sportarten, konkrete Sportvereine oder auch nur speziell auf Sportvereine im Allgemeinen.

Bevor ich zum Studium nach München zog, war ich seit meiner Grundschulzeit in einem Fechtverein organisiert. Wenn Sport auch keine sonderlich große Rolle in meinem Leben gespielt hat, so bin ich doch sehr mit diesem Verein und der Sportart verbunden und hätte große Lust darauf, zum Fechten und zum Verein auch wieder zurückzukehren. Das war mein fester Plan nach meiner Rückkehr nach Berlin. In den ersten Jahren passte es zeitlich nicht, dann kam die Pandemie und alles, was dazu gehörte, auch im Sport. Eine wichtige Information vorab, um den weiteren Verlauf zu verstehen: der Sportverein ist in einem Landesverband und einem Bundesverband organisiert. Wer an Turnieren teilnehmen will, kommt an diesen Instanzen nicht vorbei, weshalb alle Fechtvereine in den Verbänden organisiert sind.

Ich will doch nur wieder fechten.

Bereits in der Rassismuskrise Mitte der 2010er Jahre sprach ich aus München bei einem heutigen Vizepräsidenten des Landesverbands und Mitglied meines Vereins an, ob es nicht möglich wäre, aktiv auf die Anwohner*innen der umliegenden Lager für Geflüchtete zuzugehen und nach Kooperationsmöglichkeiten zu suchen. Es gab einen Aufhänger: Fechten ist eine der wenigen Sportarten, die sich regelkonform mit einigen Formen der religiösen Verschleierung praktizieren lassen. Viele geflohene Anwohner*innen waren Muslim*innen. Diesem Vorschlag wurde entgegnet, dass das Zugehen auf Opfer von Rassismus als Provokation an Rassist*innen verstanden werden könnte, die dann ‘eigene Mitglieder’ in Gefahr bringen könnte. In der Denkweise wird offensichtlich, dass es ein Bewusstsein für rassistische Gewalt gibt, die auch auf den Verein und seine Politik wirkt. Ein Problem scheint sie jedoch nur zu sein, wenn sie die eigenen Mitglieder in Gefahr bringt. Gleichzeitig gilt, dass die eigenen Mitglieder offensichtlich ausschließlich weiß gedacht werden. Nicht weiße Mitglieder wären selbstverständlich immer dieser rassistischen Gewalt ausgesetzt, würden also keiner zusätzlichen Gefahr ausgesetzt werden und könnten von solidarischen Aktionen und einem schützenden Umfeld eines Vereins noch profitieren. Die positive Chance, die in Vereinen wie Sportvereinen liegt: das Verbinden, die Solidarität über Positionalitäten hinweg wird mit so einer Einstellung im Vornherein ausgeschlossen.

Ich will doch nur wieder fechten.

Im Februar 2020 war der Landesverband Mitveranstalter einer der weltweit größten Fechtturniere. Am Vormittag des 19. Februar 2020 wurde in diesem Zusammenhang eine Pressekonferenz in einem Mövenpick-Hotel abgehalten. Mövenpick, eine Hotelkette, die bei diskriminierten Personen vor allem für die Kooperation zwischen ehemaligen Miteigentümer August von Finck (inzwischen hat sein Sohn seine Anteile ohne Distanzierung übernommen) und rechtsextremen Vereinigungen bekannt ist. Am Abend desselben Tages ermordete ein deutscher Mann aus rassistischen Motiven Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

In den folgenden Tagen wurde von der bürgerlichen Presse nach Gründen gesucht, warum der Ruf von von Rassismus Betroffenen nach Möglichkeiten der Trauer und des Einhaltgebietens, dem Unterbrechen der rassistischen Normalität, Großveranstaltungen wie den Karneval nicht betreffen würde. Dabei inszenierten bürgerliche Medien wie immer in solchen Situationen eine pseudoversachlichte Debatte, in der Pro und Kontra scheinbar gleichwertig gegenübergestellt wurden: als wäre es ein gleichwertiges Bedürfnis, auf die Bedrohung in seiner Existenz aufmerksam zu machen und um Tote zu trauern oder sich badewannenweise Kölsch zu Ballermannhits rein zu schütten.
Vier Tage später, in dieser Stimmung, fand dann das fechterische Großevent statt. Öffentlich schienen die Veranstalter*innen von der Debatte unberührt. Ich war in Kontakt mit einer anwesenden Person. Sie habe es nach eigenen Angaben mehrfach bei den Veranstalter*innen angesprochen, möglicherweise wenigstens eine Gedenkminute einzurichten. Erfolglos – es sei ‘vergessen worden’.

Ich bin mir unsicher, ob ich vorziehe, dass es sich bei der Antwort um eine Lüge oder die Wahrheit handelt. Beide Versionen sind nicht ohne rassistische Strukturen zu denken.

Ein Luxus, diese tödliche Konsequenz rassistischer Gewalt durch Gesellschaft und Staat vergessen zu können. Wieder richtet sich das Wort des Schweigens an Marginalisierte, an Opfer von diskriminierender Gewalt: ihr gehört nicht zu uns. Dieses Mal nicht nur intern, sondern auch nach außen.

Ich will doch nur wieder fechten.

Im Mai 2021 initiierte der deutsche Fußballbund zusammen mit dem Deutschen Olympischen Sportbund eine Petition, in der sie für die langsame Wiederermöglichung von Outdoor-Sportarten warben. Sicherlich nicht unproblematisch zu einem Zeitpunkt, als die Inzidenz in Berlin ungefähr 20x höher als im Vorjahr war und bis dahin maximal 6% der Bevölkerung einmal gegen Covid19 geimpft waren. Doch, das muss man ihnen lassen, sie haben sich dabei auf Erkenntnisse aus der Forschung zur Verbreitung von Aerosolen bezogen und diese verlinkt. Die Argumentation fußte grundsätzlich auf dem Wissen, dass sich Aerosole im Freien besser verteilen als in geschlossenen Räumen. Sie wäre ohne diese Erkenntnis gänzlich sinnfrei gewesen. Mein Landesverband konnte das nicht auf sich sitzen lassen. In zeitgemäßer wissenschaftsleugnender Praxis entwarfen sie eine Wutschrift, in der sie ein Zusammenhalten für Lockerungen im ganzen Sport forderten. In der Schrift wurden die Argumentation der Ausgangspetition, sowie der Begründungslinie der Unterscheidung zwischen Indoor- und Outdoorsport ganz ohne Argumentation negiert. Dabei wurden nicht nur Methoden der Leugnung von verschwörungsmythischen Gruppierungen der Zeit übernommen, die Überschrift nahm zusätzlich bewusst oder unbewusst Anleihen bei einer großen Demonstration gegen Maßnahmen zur Eindämmung von Covid19.

Anfang Juni verbreitete der Bundesverband in seinen Stellungnahmen eine ähnlich leugnende Rhetorik.

Wie sehr mehrfachmarginalisierte Sportler*innen in die Entscheidung zu Statement und Rhetorik eingebunden waren, ist von außen nicht nachvollziehbar. Bereits zuvor wurde auf der Basis von Verschwörungsmythen und rechtsextremen Medien in privaten Fechtgruppen Stimmung gegen die Solidarität mit Marginalisierten gemacht. Landes- und Bundesverbände übernahmen implizit diese Stoßrichtung antisemitischer Verschwörungsnarrative und der Aufforderung zu eugenischem Aktivismus: ‘wir sind wichtiger als Vorerkrankte’. In der Abwägung zwischen antisemitischen und eugenischen Narrativen, die in der Auslöschung von Menschen enden und den Perspektiven derjenigen, die um ihr Überleben kämpfen, scheint erneut eine Entscheidung gefällt worden zu sein.

Ich will doch nur wieder fechten.

Auf Anraten eines anderen Mitglieds warf ich dann im Zuge dieser Eklats einen Blick in die Satzung meines Sportvereins. Was mir zuvor entgangen war (mein Fehler!): die Satzung nimmt explizit Stellung unter anderem zu geschlechterpolitischen Themen. So setzten sich Mitglieder laut Satzung für die “Gleichstellung von Frauen und Männern” ein. Im gleichen Absatz steht, dass die Satzung aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf geschlechtergerechte Sprache verzichten werde. Die verwendete ausschließlich männliche grammatikalische Form würde wiederum für “beiderlei Geschlecht” gelten.

Ignorieren wir für einen Moment, dass in der Satzung offensichtlich ausschließlich die männliche Form verwendet wird: diese Form der Aberkennung von weiblichen und queeren Existenzen ist leider auch im bürgerlich konservativen Lager verbreitet und kann teilweise auch juristisch vorgegeben sein (Hallo Patriarchat!). Viel spannender finde ich die Frage: warum ist es in einer Satzung eines Sportvereins so wichtig, mithilfe von ‘Alternative Facts’ (dass geschlechtergerechte Formen das Leseverständnis nicht beeinträchtigen ist hinreichend belegt) gegen geschlechtergerechte Sprache zu argumentieren? Ist das tatsächlich der richtige Ort und die richtige Methodik für diese Diskussion? Ist dem Verein das Festhalten an offensichtlich diskriminierender Sprache so wichtig, dass es in seiner Satzung diskutiert wird? Ist dieser sprachpolitische Aktivismus vereinbar mit dem Wert der Gleichstellung: einer geschlechtlichen Gleichstellung, die sich selbst auf zwei Geschlechter beschränkt? Welche Aussage richtet ein Sportverein an (potenzielle) mehrfachmarginalisierte Mitglieder, wenn er einen ersten Teil seiner Satzung dafür nutzt, die Anzahl der Kategorie Geschlecht explizit normativ festzulegen? Sind das die Werte des Vereins, denen sich die Mitglieder verpflichten? Mit anderen Worten: muss ich queerfeindlich sein und mich gegen geschlechtergerechte Sprache engagieren, um Mitglied des Vereins sein zu dürfen? Ich kündigte meine Mitgliedschaft, schrieb diesen Artikel und dachte damit, das Projekt für mich beendet zu haben.

Ich will doch nur wieder fechten.

Was sich für mich bisher in einem Raunen und Kontinuitäten erschloss, wurde im November 2022 explizit und ist nun doch Anlass, dass ich noch einen konkreteren Text zum Abschluss dieses Kapitels schreiben muss. Als ich mich mal wieder, als Teil meines ‘Netzaktivismus’, in der Gegenrede zu rechtsextremen Narrativen in sozialen Netzwerken befand, ganz ohne offensichtlichen Bezug zum Fechten, begann ein anderer Vizepräsident des Landesverbands, die ursprünglichen Beiträge, gegen die ich redete, mit ‘gefällt mir’ zu markieren. Dabei handelte es sich nicht um irgendwelche Beiträge, sondern unter anderem um ein SharePic der AfD-nahen Zeitung “Deutschland Kurier”. Natürlich dürfen sich Vizepräsident*innen eines Landesverbands des Fechtens neben ihrer Tätigkeit politisch und auch parteipolitisch betätigen. Die AfD ist allerdings keine Partei wie jede andere. Sie ist eine rechtsextreme Partei, die explizit die Existenz von Menschen infrage stellt. Ein Vizepräsident, der solchen Inhalten öffentlich zustimmt, ist eine sichtbare potenzielle Gefahr für marginalisierte Sportler*innen und markiert für Marginalisierte einen unsicheren Raum. Erneut gibt es die Ebene der Kommunikation an Marginalisierte: wir dulden Personen in Ämtern, die Sympathien mit Gruppierungen haben und diese offen zeigen, die eure Existenz negieren und/oder auslöschen wollen. Was bisher implizit war, wird mit der öffentlichen Zustimmung zur rechtsextremen Partei und zur Duldung der Zustimmung explizit.

Ich will doch nur wieder fechten.

Ich schreibe das nicht, um Einzelpersonen, Vereine oder Verbände bloßzustellen. Es ist ein strukturelles Problem. Im Gegenteil glaube ich sogar, dass ein Verein, der sich selbst auf Werte beruft und so etwas wie einen gemeinsamen minimalen Konsens gegen Diskriminierungen in seiner Satzung beschließt, schon relativ progressiv ist. Es geht mir vielmehr auch darum, sichtbar zu machen, dass Vereine und Verbände (was eigentlich offensichtlich sein sollte) immer politisch handeln und dies auch unweigerlich über die Grenzen ihrer eigenen ‘Zuständigkeit’ hinaus tun. Ein nicht Zugehen auf Marginalisierte, ein nicht Wahrnehmen von rassistischer Gewalt, eine Argumentation für offensichtlich diskriminierende Sprache, eine nicht Wahrnehmung und Duldung von Personen, die rechtsextreme Parteien gutheißen, ist genauso eine politische Äußerung, wie ein Zugehen auf Marginalisierte, ein Wahrnehmen von rassistischer Gewalt, Versuche der Vermeidung offensichtlich diskriminierender Sprache oder der Ausschluss beziehungsweise Distanzierung von Personen, die rechtsextreme Parteien gutheißen. In beiden Fällen werden womöglich Personengruppen ausgeschlossen, die nicht miteinander vereinbar sind. Niemand kann erwarten, dass das Opfer freiwillig zu seinem Henker kommt. Wer den Opfern einen Platz bieten will, muss ihn ihren Henkern verwehren. Den gemeinsamen Raum für Marginalisierte sicher machen, bedeutet, den Raum für jene unsicher zu machen, die eine Bedrohung für Marginalisierte darstellen. Es funktioniert nicht, beide Gruppen in einen Raum zu holen und zu erwarten, dass alle schon irgendwie klar kommen. Es hat einen strukturellen Grund, warum Vereine (nicht nur Sportvereine) stark homogen in ihrer Zusammensetzung sind. Meine Erfahrung ist: Wenn sich scheinbar unpolitische Vereine emanzipatorisch und demokratisch verhalten, ist der Aufschrei von Privilegierten groß: ‘Der Verein solle sich doch nur um sein eigentliches Thema kümmern.’ Die Folge: Vereine und Verbände machen Politik für Privilegierte und gegen fundamentale Interessen von Marginalisierten. Sie lassen die Henker am Tisch und verwehren so dem Opfer den Raum. Das ist ein strukturelles Problem. Sobald ich in meiner Bubble vom Konflikt mit meinem Verein erzählte, haben viele ähnliche Situationen mit Vereinen geschildert, in denen sie Mitglied seit ihrer Kindheit sind. Viele, so wie ich, kündigen einfach. Der Kampf für einen (Hobby-)Verein, der sich mindestens nicht gegen die eigenen Interessen und/oder Interessen von Marginalisierten stellt, scheint aussichtslos zu sein.

Wenn sich Vereine und Verbände nicht aktiv für die Besserstellung von Mehrfachmarginalisierten einsetzen, schreiben sie die strukturelle Gewalt gegen sie fort. Wer nicht aktiv jene ausschließt, die Maßnahmen gegen Marginalisierte, die Gewalt gegen sie fordern, ist nicht neutral, sondern schließt die Betroffenen von diskriminierender Gewalt aus sowie alle, deren Existenz von eben jenen Forderungen in Frage gestellt werden. Das führt dazu, dass Vereine und Verbände am Ende eine Politik gegen Marginalisierte verfolgen, wenn sie die Interessen, die Privilegien, der Übriggebliebenen vertreten. Das zu verändern setzt aktive Arbeit von Vereinen, Verbänden und Mitgliedern voraus, sowie solidarische Bedingungen der Unterstützung von Mehrfachmarginalisierten bei der Ausübung eines Ehrenamtes im Verein, parallel zu ihrem alltäglichen und kräftezehrenden Überlebenskampf.

Als ich den Text einer queeren Freundin zum Lesen gab, war sie nach meinem Versprechen, dass mein Text mit einer positiven Perspektive endet, enttäuscht. Sie sah nicht die Perspektive darin, dass Sportvereine sich ändern. Privilegierte Personen würden nicht von sich aus anfangen, Macht und Räume freizugeben. Sie hätte sich kürzlich mit einer ebenfalls queeren Freund*in über ein ähnliches Problem unterhalten und kam mit der Person zu dem Schluss, dass es notwendig wäre, dass marginalisierte Personen die gewaltvollen Räume ,in ihrem Fall Fitnessstudios, für sich claimen. Nun scheint es mir als übermäßig privilegierte Person anmaßend, den Appell an marginalisierte Personen zu richten. Mein Imperativ kann sich nur an die gewaltvollen Strukturen richten, sich ihrer Gewalt bewusst zu werden und dieses Claimen auch zuzulassen. Unwohlsein, Angst und Schmerz als das wahrzunehmen, was es ist: ein Spiegel unserer eigenen Gewalt, die Gewalt der Vergangenheit und der Gegenwart. Diversifizierung von Vorständen und Mitgliedern kommt nicht von alleine, sie ist keine Maßnahme, sondern Effekt, der sich aus solidarischer Möglichkeit zur Emanzipation ergibt. So lange Vereine und Verbände nicht nach innen umsetzen und aktiv nach außen kommunizieren, dass sie ein sicherer Ort für marginalisierte Personen sind, müssen marginalisierte Personen davon ausgehen, dass sie es nicht sind. Mein Beispiel zeigt, dass ihre Annahme begründet ist.

Ich will mit meinen Mitgliedsgebühren keine Lobby der politischen Rechten finanzieren.

Ich will keinen Aktivismus gegen Marginalisierte unterstützen.

Ich will doch nur wieder fechten.

Werbung

Wichtige Beziehungen

Zwischen Affirmation und Kritik: Warum persönliche Beziehungen über die eigene Perspektive hinweg nötig sind und wie sie möglich werden können.

Kritische Wissenschaften und kritischer Aktivismus haben sieben grundlegende Annahmen über das Zusammenleben an sich und im Zusammenleben produzierte Erkenntnisse, die sich grundlegend vom bürgerlichen Verständnis unterscheiden:

  1. Unser Zusammenleben wird von historisch manifestierten materiellen und/oder ideologischen Macht- und Herrschaftsstrukturen durchzogen, die das Handeln und Denken von Personen maßgeblich beeinflussen.
  2. Wir sind uns dessen bewusst, dass unsere Welt nicht perfekt, sondern gewaltvoll ist.
  3. Die Ursache dafür sehen wir nicht in Individuen oder der Natur, sondern in den von Menschen gemachten Macht- und Herrschaftsstrukturen. Individuen re_produzieren diese “nur”.
  4. Die Macht- und Herrschaftsstrukturen, sowie deren Re_produktionen in unseren Handlungen und Denkkonzepten, lassen sich analysieren und erklären.
  5. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen.”  Eben weil unsere Gedanken und Handlungen maßgeblich von Macht- und Herrschaftsstrukturen gelenkt sind und wir in diesen falschen Systemen leben, ist in unserem Verständnis eine ständige Selbstkritik und viel wichtiger: Kritik von außen maßgeblich, um uns selbst und die Welt zu verstehen.
  6. In unserem Verständnis bedeutet, das Gegenüber ernst nehmen und verstehen zu wollen, Gedanken, Handlungen und Dinge, die uns gezeigt oder erzählt werden, in die Strukturen einzuordnen.
  7. Eine Einordnung in die Strukturen bedeutet immer eine Kritik der Strukturen, die durch eine Sache, in der Re_produktion, wirken.

Diese Annahmen stehen im Widerspruch zur bürgerlichen Gesellschaft, die für ihre individualistische Begründung auf ein Personenkonzept zurückgreifen muss, in dem Handlungen dem Individuum zugeschrieben werden und Diskurse sowie Begriffe nicht historisch geprägt werden, sondern als neutrale Beschreibung von Fakten im positivistischen Sinne verstanden werden. Das liberale Bürgertum kann keinen Fehler im System sehen, weil es Handlungen dem Individuum zuordnet. Jede Benennung von Re_produktionen werden vom bürgerlichen Subjekt als Kritik an der Person gewertet, weil es selbst die Ursache für Gewalt und Leid in individuellen Schuldigkeiten denkt. Diese verschiedenen Logiken unterscheiden affirmative und kritische Tätigkeiten im Alltag.

Daraus ergeben sich grundlegende Missverständnisse zwischen bürgerlich und kritisch geprägten Erwartungen an ein Gespräch.

Wenn bürgerlich geprägte Freund*innen von einer Sache erzählen, dann erwarten sie, dass ich als guter Freund darauf reagiere, indem ich affirmativ zustimme. Indem ich Interesse auf eine bestimmte Weise performe: zustimmen, lächeln, nicken, maximal weitergehende, positiv formulierte Fragen stellen. Kritik darf  im Anschluss in Form einer ‘lösungsorientierten Kritik’ formuliert werden. Die zwangsläufig in gewaltvollen Systemen re_produzierte Gewalt darf nicht angesprochen und muss aktiv geleugnet werden.

Wenn ich Freund*innen von einer Sache erzähle, dann erwarte ich zunächst einmal ein kritisches Zuhören: Einordnung meiner Gedanken in die Wirklichkeit, in Systeme und Diskurse. Ich fühle mich ernst genommen, wenn andere Personen die Gedanken, in denen ich mich bewege, mit mir zusammen kritisch beleuchten und mit mir weiter denken. Ich erwarte, dass das, was ich zeige, auf seine spezifische Art und Weise falsch, nur ein Zwischenergebnis ist und bürgerliche Gewalt re_produziert. Ich bin auf Kritik von außen angewiesen, um mich selbst überprüfen zu können. Nicht im persönlichen schuldhaften Sinne, sondern in dem Sinne, dass ich Re_produzent von gewaltvollen Systemen bin. Ich bin sehr dankbar für Freund*innen, die dieses Außen für mich sein wollen, die sich die Zeit nehmen, meinen Gedanken zu folgen und sie mit mir kritisch einzuordnen.

Wenn ich meine Erwartung auf bürgerliche Freund*innen projiziere, dann führt das häufig im besten Falle dazu, dass sie sich verarscht fühlen, im schlechtesten Falle wird es als fundamentaler Angriff auf die eigene Person wahrgenommen. Wir erinnern uns: die bürgerliche Gesellschaft kennt nur das versagende Individuum, nicht das versagende System.

Wenn kritische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen erleben, dass ihre Gedanken, ihre kritisch einordnende Perspektive, als Angriff wahrgenommen werden, haben sie zwei Optionen, um dies nicht zu wiederholen:

  1. Sie passen sich an, sprechen ihre Gedanken nicht mehr aus: sie schweigen oder lügen in letzter Konsequenz.
  2. Sie brechen den Kontakt aus Selbstschutz ab oder schränken ihn ein.

Der erste Weg ist anstrengend. Es ist anstrengend, Themen, die uns wichtig sind und uns beschäftigen, nie ansprechen zu können. Wir können die Themen nicht aufgreifen, wenn wir davon ausgehen müssen, dass alleine das Aufbringen des Themas als Angriff verstanden wird. Gleichzeitig führt das dazu, dass Freundschaften oberflächlicher werden, wenn wir über für uns wichtige Themen nie reden können. Die Folge ist häufig, dass der Kontakt von alleine weniger wird und ausläuft. In der ausgeprägten Form kann es auch sehr anstrengend werden, bei einem Treffen permanent Zeug*in von (bürgerlicher) Gewalt zu werden, ohne sie thematisieren zu können. Kritische Personen sind dann allein schon zum Selbstschutz gezwungen, den Kontakt einzuschränken oder ganz abzubrechen.

Zusätzlich fühlen sich auch kritische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen von ihrem bürgerlichen Umfeld missverstanden und nicht ernst genommen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation, in der ich einem bürgerlichen Freundeskreis von einer Situation erzählte, in der ich selbst Täter war. In der ich nicht einschritt, als ich Zeuge rassistischer Gewalt wurde. Mein Freundeskreis war so fixiert auf die Form der Gewalt, deren Re_produktion ich nicht unterbrach, dass ich mich zu einem mir wichtigen Thema überhaupt nicht austauschen konnte: die Reflexion von mir als Täter. Während ich über meine eigene Tat und Re_produktionen von Gewalt sprechen wollte, wollten sie mich von meiner “Schuld” reinwaschen, über die Taten von anderen sprechen und meine Tat relativieren, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft wohl auch üblich ist: Ich fühlte mich missverstanden und von meinen Freunden nicht gesehen. Die Ursache ist der fundamentale Unterschied in der Perspektive. Für mich stand das System im Vordergrund, das ich re_produzierte, für meine Freunde die individuellen Taten.

Ein Plädoyer für übergreifende Beziehungen

Für uns kritische Personen ist die Freundschaft zu Bürgerlichen ungemein wichtig. Es ist für uns wichtig, Kontakt zur bürgerlichen Welt zu haben, uns zu erden und mitzubekommen, was in der bürgerlichen Welt, über die wir so viel nachdenken, los ist. Häufig sind es bürgerliche Freund*innen, die uns auf Themen stoßen, wenn wir sie und die bürgerliche Gesellschaft, die sie in unserem Verständnis unkritisch re_produzieren, besser verstehen wollen. Ich habe mich aus ernsthaftem Interesse an bürgerlichen Freund*innen schon stundenlang mit affirmativen YouTuber*innen, Homepages von Sportvereinen und mit Erziehungsratgebern beschäftigt. Es ist wichtig, dies nicht als Hierarchie zu verstehen: es muss Menschen geben, die etwas tun, damit es etwas zu analysieren gibt. Auch das Handeln von kritisch geprägten Personen ist von der bürgerlichen Gesellschaft beeinflusst. Deshalb analysieren wir unser Tun selbst und gegenseitig. Meine Arbeit wäre aktuell sinnlos, wenn es keine affirmative, bürgerliche Gesellschaft gäbe und auch in wahren Demokratien und anderen Utopien wird es weiterhin notwendig sein, kritisch zu beleuchten: eben weil wir uns nur ausgehend von unserer Geschichte in Richtungen irren können.

Darüber hinaus ist es für mich in einer übermäßig privilegierten Position wichtig, Situationen, in denen ich selbst zum Täter wurde, zu reflektieren. Mit wem ginge das eigentlich besser als mit anderen privilegierten Personen. Es würde bei ebenfalls privilegierten Freund*innen nicht wieder den Fokus auf Privilegierte verschieben und marginalisierten Perspektiven keinen Raum nehmen. Die Überschneidung von privilegierten Personen, zu denen ich Vertrauen habe und bürgerlichen Freund*innen ist besonders hoch. Mir würde hier besonders viel an diesem Austausch liegen. So lange bürgerliche Personen sich selbst jedoch als alleinige Urheber*innen ihrer Taten sehen, machen sich kritische Personen bei der Reflektion ihrer Handlungen, Gedanken und Emotionen als Täter*innen einseitig verletzlich.

Es ist für mich wichtig Teil von bürgerlichen Treffen zu sein. Je mehr ich jedoch meine Perspektive zurückhalten muss, umso mehr ich Gewalt erleben muss, ohne sie benennen zu können, umso anstrengender ist es gleichzeitig für mich. Umgekehrt ist es sehr anstrengend für Bürgerliche, wenn die sonst akzeptierte bürgerliche Gewalt auf einmal hinterfragt und kritisch kontextualisiert wird: eben weil sie als Schuld auf die eigene Person projiziert wird.

Zuletzt bleibt noch die Verbundenheit mit der individuellen bürgerlichen Person. Geschichten, die über Jahrzehnte verwoben sind und die für uns alle persönlich und eben nicht nur analytisch wichtig sind. Personen, mit denen wir aufgewachsen sind, mit denen wir Erfahrungen, Wissen und Emotionen geteilt haben und auch weiterhin teilen wollen. Niemand wird in die kritische Perspektive rein geboren: wir alle haben auf unserem Weg bürgerliche Wegbegleiter*innen und Wegbereiter*innen. Übergreifende Freundschaften und Beziehungen müssen einen Weg finden, in dem sich beide Seiten gegenseitig ernst nehmen und nicht zur Projektionsfläche des Anderen werden. Alle müssen sich gleichzeitig sicher fühlen können, ihre Gedanken loszuwerden, wenn diese Freundschaft aufrechterhalten werden soll. Es ist natürlich gleichzeitig für beide Seiten legitim, das nicht zu wollen.

Ich kann aus meiner Perspektive nur sagen, dass es nach den vielen Erfahrungen der Enttäuschung unserer Erwartung ein absoluter Vertrauensbeweis ist, wenn ich mich traue, meine Kritik zu formulieren und meine Gedanken nicht einfach zurückhalte. Ich kann sagen, dass ich mich nicht aus Gemeinheit, sondern aus reinem Interesse durch jede Formulierung des Zeitungsartikels aus der bürgerlichen Presse durcharbeite, den ihr mir geschickt habt und es kein Anzeichen von Boshaftigkeit ist, wenn ich die in euren Augen einzige negative Passage herausarbeite. Es ist die Art, in der ich die Welt begreife. Die Kritik ist dabei in meinem Verständnis keine bösartige Vernichtung, sondern die Möglichkeit einer positiven Perspektive in gewaltvollen Strukturen. Die ernsthafte Kritik ist der Beweis unserer Hoffnung.

Was außerhalb der Hoffnung steht, produziert Zynismus. Was Hoffnung gibt, produziert ernsthafte Kritik.

Eine Methodik des übergreifenden Austauschs für kritische Personen könnte im Umgang meiner Partnerin mit solchen Situationen stecken. Sie schafft es, sowohl die kritische Perspektive nicht zu verlieren, als auch sich durch affirmativ geprägte Gesprächsrunden zu bewegen. Sie findet sich in beiden Welten zurecht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie in vielen bürgerlichen Situationen an meiner Seite ist, sie meistert und im Gespräch mit mir nahtlos in die kritische Reflektion umschalten kann. Dabei performt sie weder das bürgerliche Ernstnehmen der Affirmation, noch verliert sie den kritischen Kern aus den Augen, ohne ihrem bürgerlichen Gegenüber ein schlechtes Gefühl zu geben. Ihre Methode: eine tiefgehende Empathie für das bürgerliche Gegenüber. Empathie bedarf keiner kritischen Reflektion. Emotionen des Gegenübers können im ersten Schritt wahr und ernstgenommen werden, ohne sie sofort kritisch einordnen zu müssen. Das Problem des bürgerlichen Denkens sind die undialektischen Antworten auf die Emotion, die erlernte gewaltvolle Performanz von Emotionen (z.B. white tears), sowie die diskursive und performative Einbettung von Emotionen, nicht die Emotion an sich: sie ist im Kern real. Meine Partnerin hat das verstanden, ich noch nicht.

Grundvoraussetzungen sind sicherlich ein bürgerliches Gegenüber und ein Kissen an Privilegien. Als heterosexuelle weiße cis Frau ist meine Partnerin stark privilegiert und mit Sicherheit ist es für sie leichter, empathisch gegenüber Bürgerlichen zu sein, als Personen, deren Existenz dauerhaft von der bürgerlichen Gesellschaft abgesprochen wird. Doch vielleicht ist genau das unsere Aufgabe als privilegierte kritische Personen: die Empathie bereit zu stellen, die von der Gewalt betroffene nicht leisten können und sollen. Wir haben die Möglichkeit, empathisch gegenüber dem Schmerz, der Trauer und der Wut zu sein, den Bürgerliche fühlen und auf die sie in der bürgerlichen Gesellschaft nur undialektische und affirmative Antworten finden. Ich rede hier explizit von bürgerlicher und nicht von faschistischer Gewalt, die eine Einordnung, aber mit Sicherheit keine Empathie verlangt. Trotz des besseren Umgangs meiner Partnerin mit solchen Situationen, sind auch für sie Situationen, in denen sie ununterbrochen Zeugin von bürgerlicher Gewalt wird und sie die Themen, die sie beschäftigen, nicht ansprechen kann, unglaublich anstrengend. Wenn wir kritische Personen, den freundschaftlichen Kontakt zu bürgerlichen Personen halten wollen, sie als Subjekte wahrnehmen und nicht als Projektionsfläche zu degradieren, müssen wir die Methodik der kritischen Empathie erlernen und unseren Blick auf das Reale in den Erzählungen lenken. Wenn bürgerliche Freund*innen den freundschaftlichen Kontakt zu uns halten wollen, uns als Subjekte wahrnehmen wollen, müssen sie sich auch die Mühe geben, bürgerliche Gewalt zu reflektieren und Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft nicht als Angriff auf sich zu werten, sondern als Ausdruck unserer Hoffnung und unseres Ernstnehmens zu begreifen. 

Das Erlernen von Empathie kann unser Schritt zu auf bürgerliche Freund*innen sein, damit sie sich durch uns ernst genommen und nicht fundamental abgewertet fühlen. Das Zulassen von Kritik kann ein Schritt von bürgerlichen Freund*innen auf kritische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen sein, damit diese sich nach Gesprächen nicht nur ausgelaugt fühlen, nicht gezwungen sind, ihnen wichtige Themen auszulassen oder zu lügen.

Ich denke, wir sind häufig nicht leicht – fundamentale Eindringlinge im nahezu perfekten Schlaraffenland – die das kostenlose Essen relativieren, abstrahiert einordnen und im wissenschaftlichen oder aktivistischen Kontext eure Re_produktionen von bürgerlicher Gewalt sogar teilweise öffentlich diskutieren und auswerten. Wenn ihr es aber zulasst und diese Perspektive als untrennbaren Teil von uns begreift, nehmen wir euch ernster, als jede bürgerliche Freund*in es könnte und wir wissen es zu schätzen, dass ihr uns Teil eurer Welt sein lasst, dass wir ganz dabei sein können, obwohl ihr wisst, dass wir eigentlich nicht dazu gehören. Wir können nicht versprechen, dass unsere Loyalität im stetigen Zustimmen oder Schweigen liegt, unsere Loyalität liegt in dem Versprechen, euch, im kritischen Verständnis, immer verstehen zu wollen und vollends ernstzunehmen.

Der harte Boden der pandemischen Realität und der Fall aus der inszenierten Normalität

Die Entspannung der Coronasituation, das Ende der Pandemie und die Rückkehr zur Prä-Corona-Realität bestehen im Schein und sind die undialektische, gewaltvolle Antwort auf das Aufzeigen der Fragilität der westlichen Gesellschaften durch ein von jenen Strukturen bedingtes Virus. Die Gewalt zeigt sich dabei nicht nur auf struktureller Ebene, sondern entlädt sich auf jene Situationen, die den Schein infrage stellen und den Schleier der Negation omnipräsenten Wissens und individueller Erfahrungen durchbrechen.

Ungefähr seit dem Herbst 2021 erleben wir, dass das kollektive Narrativ des Ausnahmezustands in der bürgerlichen Gesellschaft in das Narrativ des Endes der Pandemie umschlägt. Gleichzeitig nimmt das Ausmaß an Studien und Wissen um das Virus zu, das in immensem Maße über die sozialen Medien und zunehmend auch über die bürgerlichen Medien Verbreitung findet. War Corona 2020 zunächst als Lungenerkrankung bekannt, die vor allem Älteren und Vorerkrankten schadet und gegen die Personen mit Infektion oder Impfung immunisiert werden können, gehört es 2022 zum omnipräsenten Wissen, dass es sich um eine Gefäßerkrankung handelt, die in noch nicht bekanntem Maße Immun- und Nervensystem aller Erkrankten langfristig schadet, Generationen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit demenz- und aidsähnlichen Symptomen produziert und dass eine Infektion nicht immunisiert, im Gegenteil eher mit jeder Infektion zu einem drastischeren Verlauf führt. Dazu gesellen sich bereits jetzt Erfahrungen von Long-Covid-Fällen aus dem eigenen Umfeld: die Erfahrung von chronischen Kopfschmerzen, Geschmacksverlust bis hin zu lebensverändernden Einschränkungen der Kondition in den 30ern. Die bürgerliche Gesellschaft produziert das, was sie am Besten kann: einen fundamentalen Widerspruch, der für uns alle seh- und spürbar ist. Den Widerspruch zwischen dem gewaltvollen Versuch der Wiederherstellung von Normalität und Wissen um die Kosten dieser Inszenierung. Dieser Widerspruch erzeugt eine Spannung in Gesellschaft und Individuum.

Die Existenz dieser Spannung lässt sich erahnen, wenn der gewaltvoll inszenierte Schein infrage gestellt wird: er entlädt sich in Aggression gegen die Infragestellung. Die Aggression wird dabei dezidiert nicht nur durch scheinbar moralische Imperative (z.B. Masketragen, Impfen, Indoorveranstaltungen meiden) ausgelöst, sondern allein durch das Ansprechen des Themas. Die fragile Scheinwelt wird allein durch das Aussprechen des Themas ins Wanken gebracht. Führt die (ideelle) Ansprache der Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft eher zu nicht ernstnehmender Belustigung, führt die Ansprache der Widersprüchlichkeit der pandemischen (kapitalistischen) Gesellschaft des Jahres 2022 und des omnipräsenten Wissens um das Virus unmittelbar zur Aggression und Emotionalität. Diese Aggression und Emotionalität sind Symptome der Anspannung und Anstrengung des bürgerlichen Subjekts, die pandemische Realität im Alltag mühsam und gewaltvoll leugnen zu müssen.

War die bürgerliche Gesellschaft 2020 noch von der Panik vor dem Virus paralysiert und bereit das Andere der eigenen Verwundbarkeit unterzuordnen, ist sie es nun von dem Wunsch die alte Gesellschaft im Schein wiederherzustellen. Den Punkt eines informierten, abwägenden gemeinsamen Entscheidens hat sie wie immer verpasst: im Kleinen, wie im Großen. Ein erster Schritt wäre es, den Austausch über die Pandemie wieder zuzulassen: in aller Ernsthaftigkeit und im Bewusstsein der vernichtenden Konsequenzen der Pandemie, ohne uns von den einfachen und undialektischen Antworten zufrieden zu geben. Die effekthascherische Auseinandersetzung mit ausschließlich einem Thema war dabei genauso mühsam, wie die kräfteraubende Unterdrückung eines Themas, das uns alle in jeder Minute unseres Lebens mit der Pandemie berührt. Covid is definitely not over und das wissen wir alle, unbewusst oder bewusst. Die Anstrengung im Umgang mit dem Thema ist nicht das Thema, sondern die mühsame Leugnung des für uns alle omnipräsenten Themas und das Aufbrechen des Scheins in Situationen der Infragestellung. Wenn wir diesen Widerspruch akzeptieren: den Wunsch nach einer “Normalität” und den Realitäten der Pandemie, dann können wir sehen, dass der Boden der Pandemie zwar hart ist, es sich jedoch deutlich entspannter auf einem harten Boden, als in der ständigen Angst vor dem freien Fall lebt.

Ich lade alle ein zu einem endlosen Picknick auf dem harten Boden. Die Partys, Kinobesuche, der Indoorsport, Konzerte, Teamevents und Restaurantbesuche hoch oben sind verlockend, aber von einer ständigen (unbewussten) Höhenangst begleitet und enden zwangsläufig mit einem vernichtenden Fall.

Trans Rights are Human Rights

Eigentlich finde ich es viel spannender weiterzudenken, als mich in bestehenden Strukturen auszuruhen: die Gewalt zu erkunden, die der bürgerlichen Gesellschaft inhärent ist. Eigentlich finde es viel spannender zu erkunden, wo in bestehenden Strukturen Diskriminierungen stecken, wo in mir selbst Strukturen stecken, die Gewalt re_produzieren. Eigentlich will ich mich damit beschäftigen, wo der bürgerliche vermeintlich demokratische Konsens einengt, undemokratisch ist, Personen inhärent schlechterstellt, Gewalt und Unfreiheiten re_produziert.

In einigen Situationen wiederum ist es notwendig, auf den bestehenden Konsens zu verweisen, der für alle Demokrat*innen eine rote Linie darstellen sollte. Kants „Menschenwürde“ (umgesetzt in GG Artikel 1) ist dialektisch: sie ist befreiend und unterdrückend zugleich. Was sie bei aller Kritik in jedem Fall aber auch ist: ein Punkt hinter den es für Demokrat*innen kein Zurück gibt. Die Anerkennung der Menschenwürde, ist in der Theorie der Grundsatz auch der bürgerlichen Demokratie.
Dennoch ist es tägliche Realität, dass die Menschenwürde, das Recht eines jeden Menschen um seiner selbst willen Beachtung zu finden, auch aus bürgerlichen Bereichen der Gesellschaft infrage gestellt wird.

Der Satz „trans rights are human rights“ erscheint mir in einigen Situationen wie eine leere liberale Phrase, in anderen Situationen zeigt sich, wie wichtig auch dieser eigentlich proklamierte Minimalkonsens im Umgang mit großen Teilen der sogenannten liberalen deutschen Gesellschaft ist. Dass queere Menschen Menschen sind und existieren, ist für diese Teile nicht die Selbstverständlichkeit, die sie sein sollte.

Viele Male musste ich Diskussionen mit angeblich Liberalen zu diesem Thema führen. Inzwischen diskutiere ich nicht mehr, ob sich über das Menschsein von Menschen diskutieren lässt, ob wir über das Recht ihrer Existenz demokratisch abstimmen lassen sollten oder ob wir dazu nicht „vernünftige Debatten“ führen müssten. Es gibt mit mir keinen diskutablen Weg hinter die Menschenwürde, nur den über sie hinaus: sie ist die Basis für ein demokratisches Zusammenleben.

Die Einstellung menschenfeindliche Konzepte, Vorstellungen, die die Menschenwürde von menschlichen Individuen infrage stellen nicht zu diskutieren, auch nicht mit alten Freund*innen oder der Familie produziert immer wieder Enttäuschungen und Unverständnis. Es tut weh Personen vor den Kopf zu stoßen, zu denen eine persönliche Verbindung besteht. Es ist auslaugend auch das eigentlich Selbstverständliche dauerhaft wiederholen zu müssen und sich permanent in einem Kampf gegen eine Armee von eigentlich ausgestorben geglaubten Dinosauriern befinden zu müssen. Kein Vergleich zu dem, was Betroffene durchmachen, wenn alte Freund*innen oder Familie ihnen ihre Existenz absprechen.

Es gibt ein kleines Ritual von mir, wenn ich kraftlos von den Kämpfen bin und ich mich schlecht fühle, weil ich wieder einer Person, die mir wichtig ist vor den Kopf stoßen musste: ich höre Musik. Immer in diesen Phasen höre ich Musik von Rae Spoon. Raes Musik begleitet mich nun schon viele Jahre und hat mich unter anderem auch halbwegs gut durch ein Nebenfachstudium der katholischen Theologie in München gebracht. In diesem Studium habe ich viele der oben genannten Diskussion geführt, die Ansichten einiger selbsternannter Liberaler zurück in Berlin stehen den Aussagen dort allerdings in Nichts nach. Die Musik von Rae Spoon zeigt mir immer wieder auf’s Neue, anders, als es jeder Text oder jeder Ratschlag könnte, dass dies der richtige Weg ist. Sie passt die vorherrschende Gefühlslage der inneren Überzeugung an. So habe ich die Kraft mit innerer Überzeugung und einem guten Gefühl jeden Tag sagen zu können: “Trans rights are human rights” muss Konsens sein und ist nicht verhandelbar, von keiner Person, mit keiner Person. Zweigeschlechtlichkeit ist ein Herrschaftssystem, ein Konstrukt, dass Menschen ihre Existenz abspricht. Dieser einfache bürgerliche Grundsatz muss täglich vor denen verteidigt werden, die die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft abschaffen wollen. Die Menschenwürde muss vor denen verteidigt werden, die sie abschaffen wollen, während wir versuchen sie und die Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden. Über den zweiten Teil kann es Möglichkeiten geben zu streiten, zu diskutieren und Wege auszuloten, über den ersten Teil unter keinen Umständen. Die Menschenwürde von queeren Personen ist unverhandelbar: sorgen wir im Alltag und auf allen Ebenen dafür, dass dieser Anspruch Realität wird, dass wenigstens dieser Grundsatz in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr täglich zur Debatte steht, während wir parallel kritisch weiterdenken als das.

“Je veux imaginer une école dans laquelle Alan aurait pu rester vivant.” („Ich stelle mir eine Schule vor, in der Alan hätte am Leben bleiben können.“) -Paul B. Preciado, https://www.liberation.fr/chroniques/2016/01/22/une-ecole-pour-alan_1428369/

Männliche Tränen in der Pandemie

Von der Idee Zero Covid mussten wir uns wohl oder übel für diese Pandemie verabschieden. Zu groß sind die Widerstände dagegen die Leben von großen verletzbaren Gruppen über den Profit von Wenigen zu stellen. Gleichzeitig scheint das Ende der akuten Phase der Pandemie erneut zum Greifen nah. Daran, dass im Sommer weiterhin verletzbare Personen sterben werden und auch privilegierte Personen vermutlich keinen Urlaub machen sollten, obwohl dies leicht vermeidbar gewesen wäre, ist allerdings auch das westliche Männlichkeitsbild schuld.

Der Virologe Christian Drosten “versprach” uns einen schönen Sommer, wenn wir nicht zu früh öffnen würden. Was ‘zu früh’ ist, ließe sich mit Blick auf die zeitlich versetzte ähnliche Situation in Little Britain gut bestimmen. Öffnungen, das heißt vorsichtige gemeinschaftliche Außenaktivitäten und einige Formen von Urlaub, würden dann nicht mehr zum Hochschießen der Zahlen führen, wenn ca. 60% der Bevölkerung die erste Impfdosis erhalten hätten. Dies wiederum wäre nach Drosten ca. im Juli / August der Fall, bei den derzeitigen veränderten Prognosen zur Impfung würde er diese Zeiten womöglich nach vorn korrigieren. 
Es ist schade, dass Drosten inzwischen von einem “guten Sommer” und Wohlstandsthemen wie “Urlaub” sprechen muss, um privilegierte Personen wie mich zu erreichen. Wenn von Inzidenzzahlen gesprochen wird, die niedrig genug für Urlaub ein paar Privilegierter sind, bedeutet dies gleichzeitig und scheinbar vernachlässigbar, dass verletzbare Gruppen nicht mehr täglich um das eigene Leben fürchten, nicht mehr in Einsamkeit leben müssten oder, dass Intensivpfleger*innen halt irgendwann wieder auf das maximale Normallevel kommen würden, das ein neoliberales Gesundheitssystem anbieten könnte.

Leider reicht selbst diese Aussicht auf einen “schönen Sommer” für privilegierte Gruppen als Anreiz nicht aus. Wir (älteren,) weißen, heterosexuellen cis Männer (es gibt natürlich noch weitere privilegierte Gruppen) sind es nicht gewohnt etwas nicht sofort zu bekommen, nur weil andere darunter zu leiden haben. Wir sind es nicht gewohnt, dass andere vielleicht sogar etwas früher bekommen könnten als wir, selbst wenn es gute Gründe dafür gibt. Wir sind es nicht gewohnt, dass uns nicht die besten Impfungen und medizinische Betreuung zur Verfügung stehen könnte, nur weil sie andere nötiger hätten oder andere Personen im Ausnahmezustand für die Gesellschaft relevanter sind als wir. Daher ist es uns auch häufig nicht vermittelbar, warum wir auf nicht fundamentale Dinge verzichten sollten, nur um das Leben von anderen zu schützen. Es entspricht einfach nicht der Alltagslogik unserer Sozialisation, in der uns umfassend gezeigt wird, dass wir der Mittelpunkt der Welt seien.
Es ist der sozialisierte Blick aus der privilegierten Perspektive, der Impfneid möglich macht. Dieser Blick ist es auch, der dazu führt, dass wir eine rechtliche Besserstellung für eh schon privilegierte Geimpfte diskutieren, während andernfalls die autoritär angeordneten Einschränkungen, vermutlich dann für alle, auch ohne Privilegien in ein bis zwei Monaten fallen könnten und uns diese Diskussion auch noch vollkommen logisch erscheint.
Ich kenne keine Forderung nach Öffnungen von Intensivpfleger*innen, keine von Alleinerziehenden, von Paketzusteller*innen oder Geflüchteten, die in Lagern von uns zur Ansteckung gezwungen werden – die Öffnung von Grenzen und entlastenden Institutionen jetzt mal ausgenommen.

Wir weiße cis Männer liefern uns im Gegenteil dazu gerade ein Kopf an Kopf Rennen bei der Pandemie Opferolympiade Sommer 2021 (Begriff von Mohamed Amjahid). Die Disziplin des Wettjammerns ist wie immer die Spitzensportart und wird durch folgende Fragen entschieden: Warum verdienen wir den Impfstoff am meisten? Wer verdient den Impfstoff gar nicht? Warum können wir selbst selbstverständlich niemals ansteckend sein? Wer steckt uns an? Wer sollte zu unserem Wohl der Ansteckung ausgesetzt werden?

Sobald eine Gruppe hinreichend niedrig divers ist, scheinen nicht privilegierte Perspektiven gänzlich aus dem Blick zu geraten. In einer stark männlich geprägten Fechtgruppe in der ich bei Facebook Mitglied bin buhlen regionale Interessenverbände (vertreten durch… Überraschung: privilegierte Gruppen) zur Zeit mit Verschwörungsideologen darum, wer den größeren Öffnungsenthusiasmus zur Schau stellt und die beste Jammerarie über die eigenen Einschränkungen singen kann. Zwischen Artikeln von Epoch Times (“Leitmedium der Rechtspopulisten”, https://www.zeit.de/2017/38/digitale-kommunikation-wahlkampf-internet-debatte) und Statements auf offiziellen Verbandsseiten fließen viele männliche Tränen (nochmal in Anlehnung an Amjahid) darüber, dass Hobbyfußball im Freien (wir erinnern uns an Drosten: selbst dafür wäre es jetzt noch zu früh, wenn Abstände nicht eingehalten werden könnten) womöglich vor Hobbyfechten in geschlossenen Räumen stattfinden kann, wie ungerecht dies sei und es scheinbar keinerlei Begründung dafür gäbe. Es wird ohne dass dies explizit ausgeführt wird deutlich, wie die Leugnung fundamentaler Erkenntnisse über das Virus dem entsprechenden Gejammer über das eigene Leid und resultierenden Forderungen inhärent ist. 
In einer ausschließlich männlichen WhatsApp Gruppe aus ehemaligen Schulfreunden wird debattiert, ob alle Impfberechtigten der WhatsApp Gruppe, diese Berechtigung auch wirklich verdienen und es fließen viele männliche Tränen darüber ausnahmsweise mal nicht bei den ersten 50% der Gesellschaft zu sein, die etwas bekommen. Gleichzeitig wird aggressiv für die Sinnhaftigkeit von Patenten an Impfstoffen argumentiert. Alle, die darin ein Problem sehen, werden in dieser emotionalisierten Diskussion zu einem kommunistisch / stalinistischen Feindbild der 60er Jahre reduziert. Es scheint in der männlichen Logik erfolgversprechender für privilegierte Personen zu sein anderen etwas wegzunehmen und vorzuenthalten, statt einfach für alle die Hürden zu einer Impfung abzubauen. Mehr für mich scheint logischer als mehr für alle.
Während dies beides passiert erfahre ich, dass eine junge weibliche Person aus dem Umfeld mit chronischer Schwäche des Immunsystems, für die Corona eine realere tödliche Gefahr ist und die dennoch aufgrund der Erkrankung nicht geimpft werden kann, möglicherweise in der Pandemie ihre Wohnung und ihren Job verliert.
Ist klar Harald, dir geht’s am schlimmsten, weil dir zumindest de jure verboten ist gerade mit deinen Kumpels zusammen in die Sporthalle zu husten. Das ist in einer globalen Pandemie gerade das erste Problem, in das du deine Energie stecken solltest. Ja Fred, der Manager einer bekannten Modefirma müsste eigentlich dringend vor allen anderen geimpft werden. Das ist im Ausnahmezustand sicherlich erstmal der Beruf, der am meisten gesellschaftlich relevant ist.


Leider zwingen uns die bekannten politischen Systeme dazu permanent zwischen unserem Wohlbefinden und fundamentalen Bedürfnissen Anderer abzuwägen und ich lehne eine moralische Bewertung einzelner Handlungen ab. Es gelingt mir nicht immer, aber ich arbeite daran. Eine weltweite Pandemie ist jedoch ein Ausnahmezustand, der nach nahezu allen Modellen innerhalb der nächsten Jahre, wahrscheinlich sogar eher Monate oder Wochen nicht mehr in dieser Form existieren wird. Ein Ende ist absehbar und wäre sogar schneller in Sicht, wenn selbst wir weißen cis Männer es einmal für zwei Monate schaffen würden nicht wie sonst unsere Luxusbedürfnisse fundamental über die Leben anderer zu stellen und uns selbst als Mittelpunkt der Welt zu definieren. Einfach mal noch zwei Monate die Klappe und die weißen Füßchen still halten. Wenn wir uns ganz, ganz, ganz, ganz viel Mühe geben schaffen wir sogar diese unglaublich schwierige gesellschaftliche Aufgabe und könnten damit Leben und noch sehr viel wichtiger…. unseren Urlaub und die nächste Wettkampfsaison retten. Ich hätte mir einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie gewünscht, dieser Zug namens Zero Covid ist abgefahren. Zur Zeit liegt unsere Hoffnung und noch viel eher die Hoffnung der Marginalisierten in jedem nicht lebenswichtigen physischen Begegnungsort, der noch geschlossen bleibt.

Ein Jahr nach Hanau

Vor genau einem Jahr wurden bei einem rassistischen Terroranschlag in #Hanau neun Menschen ermordet.

Gökhan Gültekin
Sedat Gürbüz
Said Nesar Hashemi
Mercedes Kierpacz
Hamza Kurtović
Vili Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu
Ferhat Unvar
Kaloyan Velkov

Was sich die Hinterbliebenen und viele andere BIPOCs in Deutschland wünschten war, dass der Schmerz, die Angst und die Wut gesehen würde, die sie fühlten; dass der strukturelle Rassismus auch endlich von denen als Problem gesehen würde, die von diesen Strukturen privilegiert sind und dessen Konsequenz solche Taten sind.

Diese umfassende Aufgabe für die Weiße Gesellschaft wurde bereits in den folgenden Tagen an einem kleinen und minimalem Punkt konkret: Zeigt Respekt für die Toten, zeigt einmal, dass „unsere Toten“ auch „eure Toten“ sind.
Zeigt einmal, dass es euch interessiert oder überhaupt irgendwie berührt, wenn eure Privilegien, die ihr sonst immer schweigend hinnehmt, uns töten: wenn der tödliche Alltag von Rassismus einmal mehr so konkret zeigt, dass er nicht ignoriert werden kann, dass das Ausbleiben von Reaktionen darauf erneut nur mit einer Leugnung von strukturellem Rassismus gleichgesetzt werden kann.
‚Sagt den Karneval ab! Sagt Großveranstaltungen ab! Sagt den Sport ab!“

Wieder mussten Opfer für ihre Anerkennung kämpfen und sogar das Selbstverständliche kommunizieren. Wieder wurden ihre Schmerzensschreie nicht gehört. Der Karneval fand statt, (sportliche) Großveranstaltungen fanden statt. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen: häufig nicht einmal mit Momenten des Gedenkens. Der Terroranschlag ist ein Ausdruck von Rassismus, die gesellschaftliche Legitimierung ein anderer. Diese Strukturen sind das, was zu Hanau führt: keine „Einzeltäter*innen“, keine „Durchgeknallten“: die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Sie sind die blutige Konsequenz dieser Nichtbeachtung, dieses Schweigens.

Dafür gibt es keine Entschuldigungen. Es gilt Verantwortung zu übernehmen ohne in einem Gefühl der Schuldigkeit zu versinken. Wir alle sind rassistisch erzogen worden. Unser Leben ist durchzogen von rassistischen Bildern und Weltanschauungen. Ich selbst könnte spontan eine Vielzahl von Situationen im letzten Jahr nennen, in denen ich selbst rassistisch gedacht und/oder gehandelt habe. Für unser Denken und unsere Handlungen tragen wir Verantwortung: mit Schuldgefühlen helfen wir niemandem, damit Rassismus an uns selbst und in der Gesellschaft zu erkennen schon. Wir müssen erkennen was wir tun, warum wir es tun und dann dekonstruieren.

Bei der Durchführung fröhlicher Großevents Tage nach einem rassistischen Terroranschlag ist die bewusste oder unbewusste Motivlage eindeutig: Normalisierung rassistischer Strukturen und Gewalt. Wenn der Terroranschlag dann nicht einmal thematisiert wird, schreit dieses Motiv Betroffenen nahezu ins Gesicht. Es zeigt nicht nur, dass die rassistische Gewalt als Normalität gebilligt wird, es zeigt gleichzeitig den Weißen Blick von Veranstalter*innen. Für „uns“ ist ja nichts schlimmes passiert. Bei „uns“ ist doch alles gut. Alles Normalität.

‚Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der rassistische Terroranschläge auch für Weiße keine Normalität sind. Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der rassistische Strukturen bekämpft und nicht täglich ungebrochen re_produziert würden. Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov noch mit uns leben und wenn sie wollen würden mit uns noch immer Karneval feiern, Sport treiben: Fußballspielen, Tanzen oder Fechten könnten.‘ (Vorlage von Paul B. Preciado)

Corona und die bürgerliche neoliberale Gesellschaft

Vor ungefähr acht Monaten habe ich schon einmal über die Corona-Pandemie geschrieben. Seitdem hat sich im medialen, gesellschaftlichen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs eine Menge getan. In diesem Beitrag interessieren mich drei gesellschaftliche Themenfelder, für die die sogenannte Corona Krise verantwortlich gemacht wird: Gouvernementalität (Foucault), Bürger*innen als Leidende (Nietzsche) und die Blindheit für die Verletzlichkeit des Anderen in den neoliberalen bürgerlichen westlichen Gesellschaften. Im weiteren möchte ich auf drei miteinander verschwimmende exemplarische Gruppen eingehen, die zum Erhalt dieser gesellschaftlichen Strukturen beitragen. Die drei Gruppen werde ich modellhaft wie folgt einteilen: verschwörungsideologische Kritiker*innen der Coronamaßnahmen, neoliberale Kritiker*innen der Coronamaßnahmen, Befürworter*innen neoliberaler Coronamaßnahmen. Dazu sei gleich vorweg gesagt, dass diese Einteilung extrem überzeichnet ist. Es gibt wohl keine Person, die komplett einer dieser Gruppen entspricht und ich weiß auch nicht, inwieweit ich mich selbst als Teil dieser Gruppen beschreiben würde. Im letzten Teil “Technikkritik und Lösungen durch Technik” möchte ich für mich untypisch zumindest Lösungsansätze skizzieren. Aus bekannten Gründen meiner auf allen Ebenen privilegierten Position, halte ich nicht viel von “produktiver Kritik”. Auf vielfachen Wunsch, möchte ich dennoch einen Ansatz skizzieren.

Da der Beitrag sehr Komplex geworden ist, ist er in zwei Weisen lesbar: in der “Long Longread-Version”: im kompletten Text oder in der “Not even that long but also very Longread-Version”: in der die violetten, komplexeren Textteile in den ersten drei Teilen weggelassen werden können.

Gouvernementalität

Bereits im ausgehenden 20. Jahrhundert beschrieb der Philosoph Michel Foucault die Struktur der Macht, die in allen gesellschaftlichen Bereichen wirkt. Er beschränkt die Regierung der Gesellschaft dabei weder auf einen Vorgang, der von wenigen ausgeht, noch als einen, der nur wenige betrifft. In seinen Ausführungen beschrieb er, wie Gesellschaft sich selbst nach Machtstrukturen orchestriert und alle Lebensbereiche davon eingeschlossen werden und alle Teilnehmer*innen an der Re_Produktion von Machtverhältnissen beteiligt sind.
Ein wichtiger Teil dieser Erkenntnis ist die (Selbst)Disziplinierung, die bei Foucault eine große Rolle spielt. Diese Ausführungen wären im Spiegel der Pandemiemaßnahmen sicherlich sehr spannend, im Moment möchte ich den Fokus allerdings auf die rechtliche Dimension der Gouvernementalität legen. Für die deutsche Diskussion kann hier die umfassende Analyse “Kritik der Rechte” von Christoph Menke herangezogen werden. Menke expliziert in der Arbeit an einer Stelle Foucault, in dem er auf die zwei Seiten des subjektiven Eigenwillens eingeht. Dieser ist nach Menke die ‘Grundeinheit’ bürgerlicher, liberaler Gesellschaften: also auch des Deutschen Rechtssystems. Dieser subjektive Eigenwille muss stark vereinfacht in zwei Richtungen gedacht werden: dem “Willen nach Willkür” und dem “Willen nach sozialer Teilhabe”. Auf der einen Seite steht der Anspruch auf Willkür, als Person mit “natürlichem” individuellen Willen ein Anrecht auf rechtliche Verwirklichung dieses eigenen Willens zu haben. Auf der anderen Seite steht der Anspruch auf soziale Teilhabe, der meinen “natürlichen” individuellen Willen überhaupt erst voraussetzt und von diesem gebildet würde. Beide Teile widersprechen sich, sind jedoch Teile desselben Grundes: des Eigenwillens, auf dem wiederum das Recht fundamental gründet. Eine Vereinfachung dieser Analyse lässt sich in der Formulierung von Christoph Möllers finden: “In beiden Funktionen vereinzelt das Recht die Subjekte und separiert sie von der politischen Gemeinschaft. Beide produzieren je eigene Typen von Recht. Der besitzbürgerliche Eigenwille ist im Privatrecht [ausgedrückt]. Die lediglich parzellierte Teilnahme der vereinzelten Subjekte an der Gesellschaft wird im „Sozialrecht“ bestimmt, das der individuellen Willkür aber nur äußerliche Grenzen zieht. Beide haben das Potential, das jeweils andere zu kritisieren: Aus der Perspektive des Privatrechts ist das Sozialrecht unfrei, aus der Perspektive des Sozialrechts ist das Privatrecht unsolidarisch. Diese wechselseitige Kritik vermag das bürgerliche Recht aber im Kern nicht zu verändern, sondern fungiert gerade umgekehrt als Vehikel seiner Stabilisierung.” 

So beschreibt Menke einen endlosen Kampf zwischen dem Eigenwillen der Willkür und dem Eigenwillen der sozialen Teilhabe, der immer neue und umfassendere Rechte produziert.

Was dieser Kampf nun mit Foucaults Gouvernmentalität zutun hat, beschreibt Menke selbst wie folgt: “Die Aufgabe seines [des bürgerlichen Rechts] Regierens ist unbegrenzt, weil die Form der subjektiven Rechte sich gegen sich selbst richtet: weil die eine Gestalt der subjektiven Rechte wieder auflöst, was die andere – im Namen desselben Prinzips: des subjektiven Eigenwillens – hervorbringt. Damit wird das Subjekt des Regierungshandelns, in dem immer neue Rechte erfunden werden müssen, um die freiheitszerstörerischen der alten, anderen Rechte aufzufangen. Das ist die Logik der bürgerlichen »Gouvernementalität« (Foucault): Weil sie die Regierung durch Rechte ist, regiert sie die Subjekte »durch den Vollzug [ihrer] Freiheit«. Es ist gerade die Freiheit seines Eigenwillens, die das Subjekt »in eminenter Weise regierbar mach[t]«. Das Subjekt des Eigenwillens ist der Regierung nicht entzogen, sondern ihr in eminenter Weise ausgesetzt; Es ist das Subjekt, das es nur durch die Regierung gibt – das regierbare Subjekt.” Genau diese niemals endende und alles regulierende Dynamik sehen wir gerade in der Diskussion um die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie in einem extrem beschleunigten Zustand. Sie steht aber eben nicht im Widerspruch zum liberalen Rechtsstaat, der jetzt angeblich durch Covid19 ausgehöhlt wird, sondern ist genau der Kern des Rechtstaats. Wenn die Eindämmung der Pandemie immer neue und noch mehr regulierende Novellen verlangt, dann nicht weil der liberale Rechtsstaat ausgehebelt wird, sondern weil er in seiner Form keine andere Option hat. Die sogenannte Auflösung von Grundrechten ist eine Fiktion, so zeigt uns Menke auch in seinem Buch, dass Grundrechte erstmal nichts weiter sind als die Formbestimmung des Rechts in der Form subjektiver Eigenrechte: also dessen, was ich oben beschrieben habe.

Das bürgerliche liberale Recht hat ein Ziel: die Verwirklichung des Eigenwillens jeder Bürger*in. Dabei gibt es ein Problem: der Eigenwille wird in zwei Weisen verstanden. Zum Ersten, als Wille zur Willkür in meinem privaten Bereich. Zum zweiten, als Wille zur sozialen Teilhabe im Zusammenleben mit anderen Bürger*innen. Beide Interpretationen des gleichen Eigenwillens, heben sich gegenseitig auf. Da beide Perspektiven auf den Willen gleichwertig sind, stehen sie in einem unendlichen Kampf, in dem immer wieder neue Gesetze erfunden werden müssen. So führt das bürgerliche Recht zwingend in eine Unfreiheit der Subjekte, die von immer neuen Gesetzen kontrolliert werden. Unter anderem dieses Phänomen nannte der Philosoph Michel Foucault Gouvernmentalität.

Covid19 ist ein Beschleuniger, nicht der Grund des alles regulierenden Staates und des regulierten Subjekts, der Gouvernmentalität. Es ist nicht das Handeln einzelner autoritärer Politiker*innen, das zur Ausbreitung des Staates und zur Regulierung der Subjekte führt, sondern der Kern des liberalen Rechtssystems, wie wir es kennen. Was in einigen ein Unbehagen auslöst und sich auf Covid19 projiziert, hat nichts mit einem Virus zutun.

Bürger*innen als Leidende

In diesem Abschnitt möchte ich erneut auf die Analyse Menkes eingehen. Ein weiterer wichtiger Punkt aus der “Kritik der Rechte”, den wir am Beispiel der Pandemieregierung deutlich sehen, sind seine Ausführungen zu Nietzsches Sklavenaufstand. Während die bürgerliche Erzählung zu den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts eine von der Freiheit aller (zunächst) Bürger (später in Teilen auch Bürgerinnen und inzwischen auch eines “Divers” als furchtbarer Versucht kritische Bewegungen zu determinieren) ist, gebraucht Nietzsche das Bild des Sklavenaufstandes. So ordnet er die Parteien in Handelnde (Herren) und Leidende (Sklaven / Knechte). Während die Handelnde selbst bestimmen kann, was gut und schlecht ist und somit moralisch urteilen darf, ist die Leidende nicht in dieser Position. Sie befindet sich in einer Position der Passivität. Das Anliegen der bürgerlichen Revolutionen war nach Menke und Nietzsche nicht, dass die Sklaven zu Handelnden aufsteigen wollten, sondern, als Leidende berücksichtigt zu werden. Die bürgerlichen Revolutionen etablierten, durch die Form der subjektiven Eigenrechte eine Gesellschaft, in der alle Bürger als Leidende, in der Passivität, berücksichtigt werden müssen. Nach Menke: “Das Subjekt des Rechts ist (und bleibt daher) ein Sklave; es definiert sich durch Inanspruchnahme und die Ausübung dieses Rechts als einen Knecht: als einen, der der Berücksichtigung bedarf. […] Durch das Recht eines jeden auch Berücksichtigung wird das Sein des Sklaven, seine Schwäche, nicht verwandelt, sondern verallgemeinert. […] Die Forderung danach, berücksichtigt zu werden, sagt nein zum Leiden. Sie sagt aber nicht nein dazu, ein Leidender zu sein. Die Position des Leidenden ist die der Passivität. Diese Position will die Forderung nach Berücksichtigung nicht abschaffen, sondern nimmt sie hin, ja setzt sie voraus und bestätigt sie damit.” Daraus folgert er: “Wenn aber nur soziale Teilnehmer politisch sein können – weil die Politik die Selbstregierung des Sozialen ist –, dann ist das Recht des Nichtteilnehmers auf Passivität zugleich ein Recht ohne Politik: ein unpolitisches Recht, ja, ein Recht gegen die Politik.” Um das noch kurz zum Ende zu führen. Dieser bürgerlichen Idee stellt Menke die kommunistische Idee, der “wahren Demokratie”entgegen. Während in der bürgerlichen Idee alle Bürger*innen zu Leidenden würden, würden in der “wahren Demokratie” alle Bürger*innen zu Herrschenden. Beide Ideen kämen nicht aus dem Leidens-/Herrschaftsdualismus hinaus.

Worauf ich in Bezug auf die Pandemiemaßnahmen eigentlich hinaus will, ist dass auch diese beschriebene Dynamik zur Zeit beschleunigt wird. Bereits vor der Pandemie war einsehbar, dass im bürgerlichen Rechtsstaat moralische Fragen mit gesetzlichen Fragen gleichgestellt wurden. Das moralisch Gute wird im bürgerlichen Rechtsstaat vom Recht festgelegt, die Leidende braucht und darf keine Werturteile darüber hinaus fällen. Gut ist, was legal ist. Was darüber hinausgeht ist eine Frage des Geschmacks. Ein treffendes Beispiel für Letzteres ist die Konfrontation zwischen pflanzlich basierter und omnivorer Ernährung. So ist es beispielsweise ein immer wieder gehörter Spruch “die Veganer*innen müssen unser Fleisch auf dem Tisch ertragen, weil wir ihr veganes Essen auch auf dem Tisch ertragen müssen.” Davon abgesehen, dass ich als vegan lebende Person das ertragen kann, wird hier die Gleichsetzung von moralischem Werturteil und Geschmack überdeutlich. Niemand tötet und isst ein Schwein aus einem Werturteil heraus, es ist immer eine Frage des Geschmacks. Umgekehrt ist die Entscheidung zu einer pflanzenbasierten Ernährung nahezu immer auch ein Werturteil, ob es nun auf richtigen oder falschen Schlüssen basiert, ist dafür erstmal hinfällig. Doch auch die Begrenzung von Werturteilen auf die individuelle Wahl zwischen Optionen in der Idee einer neoliberalen Tugendethik ist in der bürgerlichen Gesellschaft nicht von einer Frage des Geschmacks zu trennen. Für den Rechtsstaat sind beides gleichermaßen Anliegen der Leidenden, die verhandelt werden müssen. Das Gute spielt dabei keine Rolle. In der bürgerlichen Gesellschaft besteht nicht die Frage nach dem Richtigen, sondern ausschließlich nach dem Legalen und das richtet sich nach dem Gewollten. Was Richtig, aber nicht rechtlich erforderlich ist, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks. Das politische Werturteil wird zu einem persönlichen, subjektiven Urteil. Das Urteil wird immer subjektiviert: so das Credo der subjektiven Eigenrechte.

Durch die bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit haben sich die Bürger*innen selbst entrechtet, moralische Entscheidungen zu treffen. Im bürgerlichen Rechtsstaat hat diese Entscheidungsgewalt das Recht übernommen. Während andere Formen des Zusammenlebens Herrschende (moralisch Aktive) und Leidende (moralisch Passive) kennt, kennt der bürgerliche Rechtsstaat nur Leidende. Leidende sind unfähig selbst moralisch aktiv zu werden, die Frage nach der Moral ist ins Recht ausgelagert. ‘Gut ist, was legal ist.’
Diese Einsicht drängt sich bei den Maßnahmen gegen die Pandemie verschärft auf. Während sich die Einen moralisch erhöhen, weil sie legal im vierwöchigen Rhythmus zur Friseur*in gehen, täglich zum Sportverein fahren oder das Virus im Sommerurlaub nun vorbildlich nur in Deutschland oder in kleinen Städten mit wenigen Coronafällen verbreiten, werden Andere geächtet, wenn sie auf Parkbänken sitzen, mit Abstand im Freien in kleinen Gruppen Zeit verbringen oder in Berlin in einigen definierten Straßen auch in Einsamkeit den Mundschutz abnehmen. Der bürgerlichen Gesellschaft ist egal, was Richtig ist, sie interessiert sich nur dafür, was legal ist. Das ist keine Eigenheit einer imaginierten Coronadiktatur, sondern die Eigenheit des bürgerlichen Rechtsstaates, der auch im Umgang mit einer Pandemie wirkt, wie er immer wirkt. Es ist die einzige Form in der die bürgerliche Demokratie denkbar ist, keine Diktatur und keine DDR 2.0.

Blindheit für die Verletzlichkeit des Anderen

Bereits in meinem letzten Beitrag ging ich kurz auf das bürgerliche Unvermögen ein Solidarität zu denken, wobei ich Solidarität als Eintreten füreinander, also wirklich füreinander, verstehen würde. Dieses Unvermögen besteht in erster Linie in einer Blindheit für die Verletzlichkeit des Anderen. Während sich viele Menschen in Deutschland um sich selbst, die eigenen Angehörigen, das eigene Eigentum, das eigene Kapital oder ein “eigenes Volk” sorgen, gibt es eine Blindheit für die anonyme Masse derer die als die Anderen wahrgenommen werden: Gegenstände, Tiere, Mensche, Viren. Für das Eigene ist das alles erstmal eine potenzielle Masse an Bedrohung gleichen Ranges.

Der neoliberale Bürger nimmt nicht sich selbst als Gefahr für Andere wahr, sondern Andere als Gefahr für sich. “Jede ist ihres eigenen Glückes Schmied” und “Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt.” sind die zwei der wichtigen Mantren des homo capitalisticus, wie Bolívar Echeverría den Mensch des Kapitalismus nennt.

Daneben stehen die unhinterfragbaren Wahrheiten der bestehenden Wirtschaftsordnung. Jakob Augstein, bekennender Linker, hinterfragte seit der ersten Stunde die Pandemiemaßnahmen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft, da von ihr letztendlich auch ‘die einfachen Leute’ abhingen. Das Gruselige ist, dass er damit natürlich recht hat. Noch gruseliger erscheint jedoch, dass er damit nur in der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung recht hat und sogar selbstbezeichnete Linke das nicht einordnen können. In der Krise zeigt sich nur noch einmal mehr wie menschen- und lebensfeindlich die bestehenden Produktionsverhältnisse sind. Während die Einen um ihr Leben bangen müssen, weil sie als Risikogruppen von dem Virus besonders bedroht sind, müssen Andere um ihr Leben bangen, weil die Haushaltseinnahmen von den Maßnahmen bedroht werden, die nun das Existenzminimum unterschreiten. Sehr häufig fällt beides zusammen. Der zynische Gipfel des kapitalistischen individualistischen Systems ist, dass selbstverständlich auch jene Existenzängste haben, die materielles und soziales Kapital anhäufen, da das fragile kapitalistische System die Wachstumsimperative an alle stellt und bei Nichteinhaltung lebensbedrohlich wirken kann. Natürlich verzögert, natürlich anders, aber die Zwänge wirken auf alle. Davon abgesehen, ist uns allen bekannt, dass es auch in dieser Krise “Gewinner*innen” gibt, deren Gewinn vor allem im Verlieren der Anderen begründet ist.


Dass eine kapitalistische Ordnung, die uns in die Gegnerschaft zu allen anderen bringt und somit ein Anderes konstruiert, eben nicht naturgegeben und somit veränderbar ist, scheinen viele ausblenden zu wollen: zu Komplex scheinen die Konsequenzen. Gleiches gilt für das kapitalistische Symbol des Geldes. Neben allen positiven Aspekten von Währungen und ohne sie zwingend für überholt zu halten, müssen wir doch eines festhalten: es bleibt ein von Menschen erdachtes Konzept und ist damit veränder- und kritisierbar. Mit diesem Hintergrund scheint es absurd, dass die Bloße Vermehrung von Geld in der Konkurrenz zum Überleben von Menschen stehen kann: im Kapitalismus ist aber genau das die Tagesordnung, auch das kehrt die von Ökonom*innen sogenannte Krise hervor.

Die Auswirkungen sind uns bekannt. Während das Arbeitsleben nahezu ungebremst weitergeht, wird das politische und private Leben repressiv eingeschränkt, berechnen Wirtschaftsinstitute, wie groß die Reproduktionsrate sein muss, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland keine Einbußen hat. ‘Man nehme Variable X: ausfallende Konsum- und Arbeitskräfte durch Krankheit und Tod und setzte sie ins Verhältnis zu Variable Y: ausfallende Konsum- und Arbeitskräfte durch Lockdown. Gesucht ist R, bei dem das Wirtschaftswachstum am größten bleibt: Ergibt: Lockdown light.’ Die Folge: tausende Tote durch das Virus. Nicht, weil sich Lobbys durchsetzen oder wir von korrupten Politiker*innen regiert werden, sondern weil dies die Funktionsweise einer kapitalistischen Gesellschaft ist. In der kapitalistischen Gesellschaft ist es undenkbar, dass Gesundheit oder Leben über Profit stehen könnten.

Wer diese Toten sind steht in der neoliberalen, bürgerlichen Gesellschaft auch fest. Während Weiße Akademiker ohne Probleme ins Homeoffice gehen oder mit dem Auto in die Einzelbüros fahren können, müssen Arbeiter*innen weiter in volle Fabriken, vorwiegend Frauen weiter in den sozialen Berufen mit anderen Menschen in den persönlichen Kontakt treten und meist BIPOC-Personen weiter die Dinge bis zur Haustür liefern, für die der Weißen Gesellschaft der Gang ins Geschäft zu gefährlich ist. Bereits in der Anfangszeit der Pandemie griff Paul B. Preciado im Postskriptum seiner als Buch (Ein Apartment auf dem Uranus) veröffentlichten Essays den Vergleich mit Foucaults Beschreibung der historischen Pestregime in “Überwachung und Strafen” auf. Die Beibehaltene Strategie “exklusive Inklusion”. Der Vorteil im Neoliberalismus: Die Funktion der Privilegierten als Konsument*in bleibt erhalten, gefährdet wird nur das Andere. Während der beachtenswerte Bürger in seiner Wohnung eingeschlossen bleibt, wird er von (BIPOC)-Arbeiter*innen versorgt. Dem beachtenswerten Bürger als nicht nützlich geltende Entitäten werden in Lager ausgesperrt, der Vernichtung preisgegeben oder selbst vernichtet.

Mit der Referenz auf Preciado möchte ich dann auch wieder zurück zum Anfang meiner Ausführungen: zur Verletzbarkeit des Anderen kommen. So beschreibt er in seinem Beitrag sehr klar, dass das Subjekt, das nur in der eigenen Verletzbarkeit denkt, das neoliberale bürgerliche Subjekt auch nur eine Notfallstrategie zur Eigensicherung kennt: Abschottung. Was das Mittel der Problemlösung an EU-Außengrenzen, bei der Schweinepest an Nationengrenzen, bei Einbruch durch Menschen oder Interessenkonflikten mit Tieren am Gartenzaun oder im Straßenverkehr der SUV ist, übernimmt im Fall von Covid19 die FFP2 Maske mit Ventil. Die Interessen Anderer spielen für das neoliberale bürgerliche Subjekt keine Rolle. Mit Preciados Worten: “Covid-19 hat die Grenzpolitiken, die früher auf nationalem oder auf dem supranationalen Territorium Europas zum Einsatz kamen, auf die Ebene des individuellen Organismus verlagert. Der Körper, dein individueller Körper, als Lebensraum und als Machtgefüge, als Zentrum der Produktion und des Energieverbrauchs ist zu einem neuen Hoheitsgebiet geworden, auf dem nun gewaltsame Grenzpolitiken, die wir seit Jahren gegenüber »den Anderen« entwickelt und erprobt haben, in Gestalt von Maßnahmen der Abschottung und des Krieges gegen das Virus zum Einsatz kommen. Die neue nekropolitische Grenze hat sich von den griechischen Küsten an die heimische Wohnungstür verlagert. Lesbos beginnt jetzt auf deiner Schwelle. […] Die neue Grenze ist deine Maske. Die Luft, die du atmest, soll jetzt dir allein gehören. Die neue Grenze ist deine Epidermis. Das neue Lampedusa ist deine Haut.” Einen längeren Auszug aus dem Artikel gibt es hier.

Schulen nehmen in dieser Diskussion eine Sonderstellung ein. Sie sorgen nicht direkt für eine Vermehrung von Kapital, aber sie haben unverzichtbare Funktionen für den kapitalistischen bürgerlichen Staat: Qualifizierung und Disziplinierung (mehr dazu bei Althusser und Foucault). Das ist der Grund, warum Schulen als treibende Kraft der Pandemie von der bürgerlichen Gesellschaft, neben dem Kapital, im Ausnahmezustand nicht angetastet werden.

Die Pandemiemaßnahmen der bürgerlichen, rassistischen, patriarchalen Gesellschaft richten sich danach Sicherheit für die Privilegierten zu garantieren. Sie richten sich nicht nach den Marginalisierten (das Andere) aus, sondern wälzen das Risiko an der Pandemie zu erkranken umgekehrt auf sie ab. Während vorwiegend Weiße Akademiker im Homeoffice oder im Einzelbüro sitzen, werden ihre Konsumgüter von Arbeiter*innen in Fabriken produziert, von BIPOCs (Black, Indigenous and People of Color) zu ihnen geliefert und ihre Angehörigen von vorwiegend nicht cis-männlichen Personen versorgt. Freizeitaktivitäten werden weitgehend verboten, Produktionsmittel und Vermehrung von Kapital rechtlich nicht eingeschränkt. Danach richtet sich auch das Narrativ dieser Gesellschaft: der Arbeitsplatz und die Familie sind sichere Umgebungen, Freund*innen, Parties und öffentliche Verkehrsmittel sind Feindesland.

Was ich mit meinen Ausführungen zeigen wollte: keine der beschriebenen Phänomene stehen im Zusammenhang mit dem Virus: weder die Gouvernementalität, noch die Leidenden Bürger*innen, noch die Blindheit für das Andere. Sie alle sind integraler Bestandteil der neoliberalen, bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind weder auf eine Gruppe von Verschwörer*innen zu reduzieren, noch auf Politiker*innen, noch auf Korruption, noch auf Denunziant*innen in der Bevölkerung, noch überhaupt auf einen Teil der Gesellschaft. Wir, alle Teilnehmer*innen, re_produzieren diese Ideen mit unseren Handlungen. Jeder dieser Aspekte wird in den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und dem gesellschaftlichen Umgang wirksam, sie sind aber eben kein Ergebnis der Pandemie, sondern die Pandemie ist lediglich ein Katalysator von vielen der diese Vorgänge maximal beschleunigt. Diese Feststellung führt mich zur Skizzierung der drei wichtigen gesellschaftlichen Umgangsformen mit der Pandemie, die diese Formen der Regierung, Strukturierung und Gewalt verfestigen. Wie gesagt: alle drei sind überspitzte Modelle und so in der Realität wohl nicht oder nur selten anzutreffen.

Verschwörungsideologische Kritiker*innen der Coronamaßnahmen

Die wohl am meisten gehörte Bewegung der Kritiker*innen an den Coronamaßnahmen sind die Querdenken Demos. Wer sich diese Demos genauer anschaut, kommt nicht daran vorbei sich auch die Analysen zu Pegida noch einmal genauer anzusehen. Querdenken und Pegida funktionieren im Kern genau gleich. Es gibt einen Anlass, zu dem jegliche komplexe Kritik zu einer unterkomplexen Verschwörungserzählung umgedreht wird, bei der einfache Feindbilder gefunden und als Störer*innen in einem sonst gut funktionierenden System identifiziert werden. Waren sich die Anhänger*innen von Pegida 2015 noch sicher sie würden gegen einen von Verschwörer*innen organisierten “Strom von Geflüchteten” ankämpfen, der “das Deutsche Volk” ersetzen soll, ist sich Querdenken nun sicher, dass Verschwörer*innen “das Deutsche Volk” mit Pandemiemaßnahmen mundtot machen wollen, der Lockdown zum Trinken von Kinderblut (Kindsmord Legende) genutzt wird oder eine Diktatur errichtet würde. Wer die Verschwörer*innen sind, bleibt bei Querdenken implizit. Es lohnt sich jedoch dafür die vergangenen offen getätigten Kooperationen von Querdenken Anmelder Michael B. mit Holocaustleugner*innen zu betrachten. Auch wenn sich Michael B. im nachhinein unter anderem vom Youtuber Nicolai N. distanzierte, ist die Sympathie für dessen Thesen offensichtlich. So distanzierte sich Michael B. medienwirksam in einem Interview scheinbar spontan, nachdem er von dem Inhalt dessen Rede bei der Querdenken-Demonstation “erfuhr”. Der Inhalt der Rede ist aber kaum drastischer, als der sonstige Inhalt von Ns YouTube Kanal. Nun ist die ewige Ausrede, dass sich Michael B. nicht mit Nicolai Ns YouTube Kanal beschäftigt haben muss, bevor er ihn in Vorbereitung zur Organisation der Demos nach eigenen Angaben ‘mehrfach zum Grillen’ getroffen hat. 

Diese Argumentations- und Verteidigungsstrategie nervt mich langsam genauso, wie die, dass die Demonstrant*innen nicht wüssten, auf wessen Demonstration sie gingen und welche Ziele diese habe. Wenn Anmelder*innen nicht dafür zurechenbar sein sollten mit wem sie zusammen Demos organisieren und Demonstrationsteilnehmer*innen nicht dafür zurechenbar sind, auf wessen Demos sie gehen, können wir die Projekte Demokratie und Verantwortung abblasen. Wer das behauptet, argumentiert tatsächlich für eine Diktatur. Meiner Meinung nach ist es Menschen zumutbar, dass sie wissen, auf welchen Demonstrationen sie unterwegs sind und dabei geht es nicht um einige “rechtsextreme Störer*innen”, sondern um die Anmelder*innen, deren Ziele, Ansichten und Netzwerke.

Ich muss bei dieser Argumentation in letzter Zeit tatsächlich immer wieder an das Flash-Video “Lamas mit Hüten” denken, das in meiner Schulzeit aktuell war. Die Pointe des Videos steckt darin, dass das Lama Karl zunächst abstreitet, einen Menschen getötet zu haben. Im Laufe des Gespräches stellt sich heraus, dass Karl zwar dem Mensch 38 mal mit einem Messer in die Brust gestochen hätte, er aber nicht gewusst habe, dass diese Handlung Menschen töte. Im Video hat es das Lama tatsächlich nicht gewusst (was der Witz ist), in der Realität würden wir jedoch den wenigsten Person diese Ausrede abnehmen. Im Falle der Corona-Demonstrationen (und auch bei AfD und Pegida) wird diese Argumentation jedoch regelmäßig bedient.

“Kaaaaarl, auf die Querdenken Demos zu gehen, die klar durchweg Verschwörungserzählungen reproduzieren und offen mit Holocaustleugnern gemeinsam organisiert wurden, unterstützt den Antisemitismus…”

“Uhhh…. Ohhh … Das wusste ich nicht.”

Zusammenfassend lässt sich über Querdenken eines sagen. Die Demons haben nichts mit Corona und der Gegenwehr gegen eine “Abschaffung des Rechtsstaates” zutun, das Gegenteil ist der Fall. Ähnlich wie es Pegida nie um etwas anderes als die Normalisierung rassistischer Erzählungen ging, geht es Querdenken und den Demonstrant*innen, die sich damit identifizieren ausschließlich um die Verbreitung von Verschwörungserzählungen, die fast durchgängig in bestimmten Formen antisemitische Narrative re_produzieren. Corona und die Maßnahmen sind ein Anlass für diese Erzählungen: kein Grund. Besonders deutlich wird das bei den geforderten Maßnahmen, die irgendwie immer mit der “Abschaffung” einzelner Personen (den Verschwörern und ihren Marionetten) endet und nie über Strukturen redet.

Das ist wichtig beim Umgang: es geht nicht darum die Demonstrationen zu entlarven (alle die auf diesen Veranstaltungen sind teilen die Ideen des Anmelders oder billigen sie) oder über Coronamaßnahmen zu sprechen, darum geht es auf diesen Demos nicht, sondern sich mit den Gefahren und Problemen von Verschwörungserzählungen und Antisemitismus zu beschäftigen.

Übrigens: was bei Pegida schon wichtig war – Nur weil alle Demonstrant*innen von Querdenken diese antisemitischen Anklänge beim Anmelder teilen, heißt es nicht, dass sie sich dessen bewusst sein müssen und das reflektiert haben. Eine andere bürgerliche Entpolitisierungsstrategie bei Pegida und Querdenken ist es zu sagen “Die wissen das doch gar nicht, dass das antisemitisch (oder eben rassistisch) ist, was sie da erzählen.” Ich kann auch einen Laptop bedienen, ohne zu wissen, wie er funktioniert. Ich gehe einkaufen und reproduziere so das kapitalistische System ohne wirklich zu wissen, wie es im Innern funktioniert. Nur weil jemand etwas nicht reflektiert, bedeutet es nicht, dass jemand etwas nicht tut oder bedient.

Neoliberale Kritiker*innen der Coronamaßnahmen

Neben den verschwörungsideologischen Kritiker*innen der Coronamaßnahmen, gibt es auch eine Menge an Kritik, die sich neoliberal begründet. Ein gutes Beispiel sind hier die Demonstrationen von neoliberalen Künstler*innen, Kulturschaffenden und der Gastronomie. Während viele Verschwörungsideolog*innen die Existenz von Covid19 komplett leugnen, verharmlosen oder, der Brunnenvergiftung gleich, einer Gruppe von Menschen zusprechen, leugnet diese Gruppe nicht die Existenz des Virus. Diese Gruppe stellt sich auf eine andere Weise gegen ein solidarisches Miteinander. So sehen sowohl die Forderungen der Gastronom*innen als auch die der großen Demonstrationen der Kulturschaffenden keine finanziellen Hilfen oder Ausgleichszahlungen vor, oder zumindest sind sie nicht die Kernanliegen, sondern es geht darum wieder öffnen oder spielen zu dürfen wie bisher. Während die Coronamaßnahmen scheinbar ausschließlich den Risikogruppen nützen, würde ein Großteil der Bevölkerung unter ihnen leiden. Wir erinnern uns an die Rechnung der Wirtschaftsinstitute: wie viele Menschen müssen sterben, damit die Gastronomie weiter wachsen kann? Auch in diesen Demonstrationen geht es im Kern nicht um Coronamaßnahmen, sondern um die Re_produktion eines neoliberalen Narrativs in einer schon neoliberalen Kulturszene. Während die von der Pandemie Benachteiligten: Risikogruppen, Personen in Gefängnissen, Krankenhäusern, Personen in Lagern oder einfach im gesundheitlich teilweise noch schlechter versorgten Ausland ins Andere imaginiert werden, wird sich für den finanziellen Profit durch Arbeit der Kulturschaffenden eingesetzt. Die zynische Argumentation: wenn mit Flugzeugen geflogen werden darf, muss auch Theater gespielt werden dürfen. Die umgekehrte Argumentation, wenn nicht Theater gespielt werden sollte, sollte auch nicht geflogen werden ist für dieses neoliberale Weltbild nicht denkbar. Dabei geht es nicht darum, dass Kulturschaffende und Gastronom*innen nicht flächendeckend von den Maßnahmen besonders betroffen sind, während beispielsweise Amazon und Vermieter*innen Rekordumsätze machen, zumindest keine Verschlechterung merken oder riesige Unternehmen ihre imaginierte Macht der großzügig angebotenen Arbeitsplätze nutzen, um sich Rettungsschirme zu erpressen. Doch die Lösungen der großen Vertreter*innen dieser Kritiker*innen sind keine Umverteilung, keine Utopie, kein System, das diese Widersprüche auflöst, sondern die Antwort ist ganz plump: “Wir wollen auch wieder öffnen dürfen”. Es ist keine Neuheit, dass der Kapitalismus immer wieder Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Menschen Re_Produziert. Es gibt viele Antworten auf dieses Problem: die Proklamation neoliberaler Gedanken: wie ‘wir müssen von Natur aus Arbeiten um Leben zu können’ oder ‘Produktive Arbeit ist ein Grundbedürfnis’ sind keine davon. Sie verfestigen ausschließlich die Systeme, die den Interessenkonflikt zwischen Einnahmen der Einen und Überleben der Anderen als naturgegebenen Kampf inszenieren.

Befürworter*innen neoliberaler Coronamaßnahmen

Wie ich in den ersten drei Teilen zeigen wollte, produzieren die Pandemiemaßnahmen die Probleme, die der bürgerlichen neoliberalen Gesellschaft inhärent sind. Gleichzeitig produziert die bürgerlich neoliberale Gesellschaft auch Pandemiemaßnahmen, die diesen Logiken inhärent sind. Theater haben zu, Shoppingmalls haben geöffnet. Treffen im Freund*innenkreis draußen und mit Abstand  ist verboten, Fabriken und Labore laufen ohne Abstände wie gewohnt weiter. Einsame ältere Menschen dürfen nicht besucht werden, während für Vermehrung des Kapitals geschuftet werden muss. Friseur*innen haben geöffnet, während politische Kundgebungen und Solidarität nur unter Vorbehalt möglich sind.

Während die Kritiker*innen der Coronamaßnahmen durch das Virus direkt ausgelöstes Leid zum Vorteil ihres Volkes (Verschwörungsideologien) oder des Kapitals (neoliberale) billigend in Kauf nehmen, nehmen die unkritischen Befürworter*innen der Pandemiemaßnahmen die menschenfeindlichen und neoliberalen Auswirkungen dieses Systems in Kauf und re_produzieren sie. Entsolidarisierung, Vereinzelung, die Blindheit für das Andere, passive und unpolitische Bürger*innen und eine fortschreitende Gouvernmentalität sind die Folgen. Auch diese Gruppe schreibt ein System fest, das Menschenleben im Sinne größerer Ziele opfert. 

Alle drei der benannten Gruppen leugnen die Gewalt und die Unterschiede, die die bestehenden Systeme re_produzieren. Mögliche Probleme werden auf die jeweils anderen Gruppen (oder eine Gruppe von Verschwörer*innen) ausgelagert und in diese projiziert. Während für die Verschwörungsmytholog*innen die neoliberalen Befürworter*innen, die Schlafschafe, schuld am Leid “ihres Volkes” sind, versuchen sich die neoliberalen Kritiker*innen von beiden anderen Gruppen abzuheben: die einen sind die Spinner, die mit ihren Aktionen überhaupt erst die Pandemie soweit vorangetrieben haben, die Anderen sind die unsolidarische Masse. Für die Gruppe nummer drei sind natürlich alle, die Kritik an den Coronamaßnahmen haben schuld an dem Verlauf der Pandemie, sowie jene, die nicht alle Maßnahmen immer befolgen, ungeachtet der jeweiligen sozialen Positionen und Zwänge. Die Probleme, die den Systemen inhärent sind, werden von allen drei Gruppen ignoriert und somit von ihnen abgelenkt beziehungsweise verfestigt. Alle drei Gruppen unterscheiden sich stark in ihren Ausprägungen, aber sie haben im Kern eine Gemeinsamkeit: sie alle blenden die Probleme aus, die dem System inhärent sind. Fehler werden immer bei Einzelpersonen gesucht oder aus dem System ausgelagert. Für die einen sind es die Reichsbürger*innen, die keine Masken tragen,  für andere korrupte Politiker*innen und für wieder andere eine Gruppe jüdischer Verschwörer*innen. Einer ernsthaften und fundamentalen Kritik, will sich keine dieser Gruppen stellen. Zusätzlich habe ich im persönlichen Umfeld das Gefühl, dass alle drei Gruppen sich von einer argumentativen Auseinandersetzung verabschiedet haben: einfache Feindbilder ersetzen die kritische Debatte.

Technikkritik und Lösungen durch Technik

In beiden skizzierten Gruppen der Kritiker*innen der Pandemiemaßnahmen findet sich eine pauschale und fundamentale Technikkritik. Bei den Verschwörungsmytholog*innen zeigt sich das sehr deutlich bei der Kritik der “Schlafschafe vor ihren Bildschirmen”, die Angst vor einer digitalen Diktatur oder auch das Feindbild 5G Technik. Den Grund  dafür finden wir erneut in Preciados Text. Denn wie Preciado analysiert, ist die Technik der Regierung, die einzige Minimale Veränderung zwischen vorherigen Expansionen des bürgerlichen Rechtsstaates und der gerade Ablaufenden. Gleichzeitig ist Technik die einzige Möglichkeit das Aufhalten der Pandemie nicht in einem neoliberalen “social distancing”, sondern in einem emanzipatorischen “physical distancing” zu denken. Während sich bei den beiden genannten Formen der Maßnahmenkritik auch esoterische Strukturen (die Verbindungen zwischen völkischen und esoterischen Ideen sind vielfach aufgezeigt worden: im deutschsprachigen Raum sind zu diesem Thema wohl die Schriften von Jutta Ditfurth zu nennen) und pauschal technikkritische Ideen etablieren konnten, lässt sich Technikkritik weniger zynisch und emanzipatorisch denken. Denker*innen in der Tradition Donna Harraways haben begriffen, dass Technik (und Wissenschaft) immer in Machtgefügen entstehen. Ja, unsere Techniken, die wir verwenden und auch die digitalen Techniken sind patriarchale, rassistische, neoliberale Systeme. Sie sind in patriarchalen, rassistischen, neoliberalen Machtgefügen, mit den Mitteln der Privilegierten erdacht, konstruiert und reproduziert worden. Sie stützen diese Machtstrukturen. Ursache für die Re_Produktion der Machtstrukturen durch die Technik ist allerdings nicht die Technik, sondern die Machtstruktur. Digitalisierung “aufhalten” (so es denn möglich wäre), würde an den Machtstrukturen nichts verändern, sondern ausschließlich an den Techniken, mit denen sie Re_Produziert würden.

Paul B. Preciado und andere rufen daher nicht zu einer Umkehr auf, sondern zum Nutzen der Technik zu sogenannten Kontrapraktiken: die Machtgefüge mit ihren eigenen Techniken bekämpfen. In diesem Sinne kann ich auch nur zu digitalen und analogen Kontrapraktiken aufrufen. Pandemie ernstnehmen, gleichzeitig digital und analog Kontakt suchen, wo anderen nicht geschadet wird. Ohne Risiken der Übertragung, ohne Orte der Begegnung können viele diese Pandemie nicht überstehen. Die neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Gesellschaften lagern die Risiken der Ansteckung mit Covid-19 auf Arbeiter*innen, Nicht-cis-Männer und BIPOC aus, gleichzeitig werden die Risiken durch fehlende Kontakte und Solidarität auf diese und weitere Gruppen (Geflüchtete, nichtmenschliche Tiere) ausgelagert. Digitale Kontrapraktiken können uns helfen beidem entgegenzuwirken. Die Lösungen können nicht in einer imaginierten, konstruierten, biologisierten und romantisierten Natur liegen, in deren Namen Millionen Leben einer Krankheit geopfert werden und so lebenswertes von nicht lebenswertem Leben getrennt wird. Sie kann aber auch nicht in einer neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Start-Up Technikromantik oder in neoliberalen, patriarchalen und rassistischen staatlichen Institutionen liegen, deren Glaubenssätze jeden Tag Gewalt und Tod re_produzieren. Demgegenüber stehen extrem vielfältige Formen von emanzipatorischen, digitalen und analogen Kontrapraktiken, die wir zu großen Teilen erst noch entwickeln müssen.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist das Training eines Blickes für das Andere, um zu sehen, was strukturell ausgeblendet wird. Ziel ist das aktive Bewusstmachen derer, denen bestehende Systeme und auch eigene Handlungen innerhalb von Systemen schaden. Statt nur an die eigene Gesundheit im Blick zu haben, was der normale Blick der bestehenden Machtsysteme wäre, bedarf es dessen die Gesundheit der Anderen im Blick zu haben. Statt von der Verletzlichkeit der eigenen Gesundheit auszugehen, die Verletzlichkeit der Gesundheit des Anderen fokussieren. Wir müssen uns dessen bewusst machen, dass wir nur in der Abhängigkeit zu anderen Leben können und nur Leben können, wenn wir uns anderen und den Risiken, die damit einhergehen ausliefern. Die bestehenden Systeme geben vor wen wir wann gefährden, wem wir uns ausliefern und welche Fremdbestimmung uns zu Subjekten macht. Sie bestimmen, welche Orte des Zusammentreffens uns konzipieren und zu welchen Konditionen sich Subjekte einander ausliefern können und das eben nicht nur in der Pandemie, sondern kontinuierlich und immer.

Ein sehr individueller Ansatz (nicht die Lösung) kann es sein das in den Blick zu nehmen, was in dieser konstruierten Welt der Abhängigkeiten abhanden kommt: das Andere. Während uns dieses System einredet, dass wir unsere Gesundheit und maximal die Gesundheit unserer Großeltern in den Blick nehmen sollen, können wir uns bewusst die Gesundheit der Großeltern der Paketbot*in, der Pizzalieferant*in, der Laborarbeiter*in oder der Bewohner*innen der vielen Lager, Gefängnisse und Sozialeinrichtungen in den Blick nehmen. Statt nur im Eigenen zu denken können wir versuchen den Blick zu verändern und im Anderen zu denken und handeln. Das scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein, in Systemen, die kontinuierlich das Gegenteil von uns verlangen, doch ist es auch der einzige Weg der uns bleibt.

Wir müssen einen solidarischen und politischen Umgang miteinander finden, besonders in der Pandemie. Ich habe versucht zu zeigen, dass dieser in den bestehenden Systemen und auch mit den medial groß gemachten kritischen Strömungen nicht möglich erscheint oder auch klar nicht gefordert wird. Mögliche kritische Ansätze haben für mich drei Voraussetzungen, von denen ich einen implizit und zwei explizit skizzierte:

  1. Die Corona Pandemie mit all ihren weitreichenden Auswirkungen und Konsequenzen für Personen ernstnehmen.
  2. Lösungen für einen politischen Umgang mithilfe digitaler und analoger Kontrapraktiken zu den bestehenden neoliberalen, bürgerlichen, patriarchalen, rassistischen Praktiken und Strukturen entwickeln.
  3. Als Maßstab für die Praktiken die Verletzlichkeit ‘des Anderen’ als wichtigste Bezugsgröße nehmen.

Frohe Weihnachten!

Corona: die bürgerliche Mitte entdeckt die Solidarität… mit sich selbst

Covid-19 ist eine Bedrohung, vor allem für ältere Menschen und menschliche Personen mit Vorerkrankungen. Das müssen wir alle anerkennen und diesen Menschen gilt unsere Solidarität. Jüngere Menschen, die sich ihres geringeren Risikos an der Krankheit zu sterben bewusst sind und sich trotz aller Warnungen und Aufrufe in großen Gruppen aufhalten oder unvorsichtig umgehen, handeln egoistisch und bringen potenziell Menschen in Lebensgefahr. Die Krankheit ist auch nicht mit möglichen positiven Folgen für Pflanzen, Tiere oder “den Planeten” zu glorifizieren. Solidarität emanzipatorischer Bewegungen muss allen gelten, sonst rutschen sie schnell ins unkritische ab und wenden sich gegen ihr eigenes Ziel: die Emanzipation. Ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen sind von dieser Solidarität keinesfalls auszuschließen. Auch ist das Personal in den Krankenhäusern nicht zu vergessen, das die neoliberale Sparpolitik im Gesundheitssektor allein stemmen muss. Es ist traurig, dass das extra betont werden muss, aber es ist notwendig.
Zusätzlich ist es spannend, wer sich nun aus welchen Motiven zur Solidarität bekennt und Egoismus anprangert. Darunter unter anderem Menschen, die sich nie bis selten politisch äußern, die kleinsten Wege unnötig mit dem Auto unternehmen, zu touristischen Zwecken (mehrmals im Jahr) mit dem Flugzeug fliegen und natürlich tierliche Produkte konsumieren. Offenkundig ist, dass diese Handlungen genau so mittel- beziehungsweise unmittelbar das Leben anderer Personen bedroht, wie Treffen von Jugendlichen im Ausnahmezustand zur Zeiten der Corona-Pandemie. Der einzige Unterschied ist, dass von der Corona-Pandemie auch privilegierte Personen betroffen sein können, deren Interessen beachtet werden. Der Flug der Einzelnen tötet eine anonyme Person in Indien, während die angebliche Corona Party auch jene beeinflussen kann, deren Interessen gehört und wahrgenommen werden.
Die Ungleichheiten der Betrachtung von Interessen findet sich nicht zuletzt in dem Spruch ’stay at home and save lives’ pointiert wieder. Zuhause zu bleiben schützt nicht nur Leben, gleichzeitig gefährdet es Leben. Unser “Sozialsystem” sieht vor, dass Menschen wohnungslos auf freiwillige Gaben angewiesen sind, von Menschen, die nun Zuhause bleiben. Tiere, die sich an die Abfälle von Menschen gewöhnt haben, sterben ohne diese ‘Abfälle’. Geflüchtete, für deren Aufnahme und Überleben sich auf der Straße niemand mehr einsetzt, sterben an der Kampagne “stay at home”. Wenn von “lives” gesprochen wird, sind damit keinesfalls alle Leben gemeint, sondern nur die Leben der relevanten Gruppen: die weiße bürgerliche “Mitte”, die den Begriff “Solidarität” so im Sinne ihres eigenen Egoismus umdeutet. Wenn weiße, reiche Entertainer*innen aus ihren Villen und Lofts heraus unter anderem alleinerziehende Eltern dazu auffordern allein mit ihren Kindern in ihren Plattenbauwohnungen zu bleiben, dann ist das richtige Wort dafür nicht Solidarität, sondern Zynismus. Die Instrumentalisierung von Menschen mit Vorerkrankung sollte in der Welle der scheinbaren Solidarisierung nicht missverstanden werden. Die junge Person mit Vorerkrankung wird vielleicht als Mitleidspotential gesehen, mit dem für das eigene Interesse geworben werden kann. Bei der nächsten Diskussion um das neoliberale bedingungslose Grundeinkommen, das in ihrer Konsequenz die individuellen solidarischen Mehrleistungen für beeinträchtigte Menschen abschaffen soll, offenbart sich jedoch das Schauspiel der Solidarität.
Ja, ich bleibe Zuhause und finde die Kampagnen sinnvoll, auch ich habe Omas und kenne Personen mit Vorerkrankungen. Es ist unabdingbar, dass wir für diese Personen Zuhause bleiben. Wir müssen aber auch nicht so tun, als würden wir damit selbstlos handeln und als wären die Aktionen nicht widersprüchlich.
Ferner möchte ich einen Blick darauf richten, was als Egoismus wahrgenommen wird und was eben explizit nicht. Wahrscheinlich, so die verbreitete Hypothese, wurde auch die Corona-Pandemie vom Verzehr tierlicher Produkte ausgelöst. Schon seit vielen Jahren ist zumindest bekannt, dass die Entstehung multiresistenter Erreger auf Tierhaltung und damit auch Produktion und Konsum tierlicher Produkte klar zurechenbar ist. Die Erreger nehmen dabei keine Rücksicht, ob sie das Leben einer Person bedrohen, die sich an Tierausbeutungsprozessen beteiligt oder sich dagegen stellt. Stellen wir uns dann nur eine mögliche Pandemie mit einem resistenten Erreger vor…
Während das Verlassen des Hauses oder das Treffen in Gruppen als ‘anderen schädigender Egoismus’ wahrgenommen wird, bleibt der Konsum oder die Produktion von tierlichen Produkten unhinterfragte Norm. Die Herausforderung dieser Norm und der Widerspruch von Produktion und Konsum bleiben im Anderen, in der Veganer*in, als neue geschlossene Zielgruppe ausgelagert. Die Hinterfragung von Machtlinien, wie die zwischen Mensch und Tier, nagt an der Besserstellung der Privilegierten, die Verbarrikadierung in der eigenen Residenz tut dies nicht. In den sozialen Medien oder privat werden die luxuriösen Verhältnisse der eigenen Isolation zelebriert. Um diese Verkehrung von Solidarität in Egoismus noch zu steigern, wird statt physischer Distanz, soziale Distanz gefordert. Dass beides nicht miteinander einhergehen muss und sich vielleicht sogar widersprechen kann, weiß jede Person, die schon einmal den Wohnort gewechselt hat. Doch ist es, wie ich versucht habe zu zeigen eben nicht (nur) die physische Distanz, die gefordert wird, sondern eben doch tatsächlich die soziale Distanz von allen, die von dem Egoismus der weißen bürgerlichen “Mitte” nicht profitieren.
Die Grundeinheit im Kapitalismus sind Kapital und Wirtschaft, nicht Interessen von Personen. Das zeigt sich in keiner Zeit so deutlich, wie in der sogenannten Krise. Die Analyse unserer Gesellschaft in der Corona-Zeit von den Falken Nürnberg macht dies sehr deutlich. Während Kunst, Kultur, Demonstrationen und Bildung stillstehen, ist Arbeitnehmer*innenschutz in den Fabriken großer Konzerne quasi ausgesetzt. Mit dem im Kapitalismus alles legitimierende Schlagwort der “Arbeitsplätze” werden auch in dieser Krise wieder große Pakete für fiktiven Profit und gegen reale Interessen von Personen geschnürt. Der neoliberalen Gesellschaft geht es um eines: Profit. Der neoliberale Staat, der durch die bürgerlichen Revolutionen geschaffen wurde hat eine Funktion: Sicherung des Profits derer, die Eigentum und Kapital besitzen. Die Befriedigung von Bedürfnissen, die viel beschworenen Arbeitsplätze und selbst die Produkte sind nur Nebenerzeugnisse, die zufällig abfallen. Daher ist auch Covid-19 nur eine Gefahr, solange sie dem Profit schadet, den der Staat schützt. Die beschworene Solidarität gilt einzig denen, die an diesem Profit partizipieren und das sind in unserer Gesellschaft in der Mehrheit immer noch ältere Herren: die Hauptrisikogruppe von Covid-19. Die Solidarität der bürgerlichen “Mitte” bedeutet Solidarität durch eigenes Vorteilsdenken – der Angestellten wird geholfen, indem Eigentümer*innen profitieren. Dass Interessen der Arbeitnehmer*innen und Profit von Eigentümer*innen Gegensätze sein können, lässt sich in den Logiken dieser Ideologie vielleicht in externalisierten Einzelfällen denken, doch sicherlich nicht als diesen Logiken zwingend inhärent.
Exemplarisch dafür ist das virale Video einer großen hannoveraner Bäckereikette. Zu sehen ist der Inhaber, der um seinen persönlichen Profit trauert. Die Diskursregeln des Kapitalismus sehen es vor, dass er bewusst oder unbewusst in der Trauer auch auf die Arbeitsplätze und die Interessen seiner Mitarbeiter*innen referiert. Wie egal diese Interessen jedoch eigentlich gegenüber den Profitinteressen des Inhabers sind zeigt sich in der Krise schnell, wenn Arbeiter*innen darüber informiert werden, dass Krankschreibungen nur bei nachgewiesenen Covid-19-Fällen akzeptiert werden oder Entlassungen stattfinden, solange Gehalt und Vermögen der Inhaber*innen unberührt bleiben. Bis zu diesem Zeitpunkt sind Entlassungen nicht durch die Krise, sondern durch den Profit der Person bestimmt, die über die Produktionsmittel verfügt. Das Video für sich genommen wäre unbedeutend, wäre es nicht vielfach auch von jenen geteilt worden, die von diesen Logiken gewaltvoll ausgebeutet werden. Dass Eigentümer*innen in wirtschaftlich guten Zeiten für ihre “Verantwortung” entlohnt werden sollen, gilt als Axiom des Kapitalismus, genau wie die Annahme, dass sie dafür in Krisenzeiten diese Verantwortung nicht übernehmen müssen, sondern an die Angestellten abgeben können.
Es ist bemerkenswert wie schnell Politik und Kapital Wissenschaftler*innen instrumentalisieren und wie schnell diese sich instrumentalisieren lassen, wenn deren Erkenntnisse Gefahren im Status quo für Kapital und privilegierte Gruppen identifizieren. Während Erkenntnisse der Gender- und Rassismusforschung, sowie kritische ökonomische Studien oder Forschungen zum Klimawandel häufig nicht gehört werden, obwohl auch hier die identifizierten Probleme vielfach zum Tod führen, werden Virologen (natürlich nur die Männer) zu Superstars stilisiert. In ihrem Namen werden Einschränkungen der Freiheitsrechte durchgeführt, die sie nie forderten. Mir ist kein „unabhängiger“ Virologe bekannt, der zu einem Verbot von Treffen in kleinen Gruppen, Ausgangssperren, elektronischen Fußfesseln oder der Ortung von Smartphones rät. Dennoch wird zur Zeit alles davon von politischen Kräften gefordert, beziehungsweise verpflichtet sich die bürgerliche “Mitte” selbst dazu. Unentwegt werden Grundrechte abgebaut mit dem Verweis auf Corona. Dabei ist es nicht die Bekämpfung von Covid-19 die den autoritären Staat und die Selbstdisziplinierung benötigt, sondern der autoritäre Staat und die Selbstdisziplinierung der nun die “Bekämpfung von Covid-19” benötigt. Der Staat und sein Mittel der Regierung “das Recht” sind auf Expansion und Kontrolle von allem ausgelegt, es ist an uns diesen Virus der Totalisierung im Auge zu behalten und klug abzuwägen.
Natürlich ist es möglich viele noch so schreckliche Gefahren durch Isolation und Reduzierung von physischen Kontakten abzuwenden, doch zu welchem Preis?
Wir müssen diese Gefahr ernst nehmen und damit umzugehen lernen nicht zuletzt für die Risikogruppen und die Ausgebeuteten des neoliberalen Gesundheitssystems. Gleichzeitig müssen wir kritisch bleiben und den autoritären Staat und die Selbstdisziplinierung in die Isolation hinterfragen und wenn nötig bekämpfen. Ich kann dazu nur den zur Zeit so viel bemühten Satz wiederholen: Hört auf die Expert*innen! Isoliert euch in diesem Sinne so viel wie nötig, aber auch so wenig wie möglich. Solidarität und Egoismus, sowie Gefahren und Freiheiten lassen sich nicht an einer einzigen Zahl messen und am wenigsten an der Zahl der physischen Kontakte von Menschen. Der Versuch der Reduktion der Wirklichkeit auf ihre mathematischen Repräsentanten und Vereinfachungen sind eine der Herausforderung, die der Kapitalismus mit sich bringt. Es ist eines der Probleme, das zu den Schlamasseln der fiktiven und realen Krisen kapitalistischer Gesellschaften führt. Die Wertung von Profit über Interessen von Personen ist gleichzeitig Voraussetzung und unweigerliche Folge. Die Mathematisierung, Arbeitsteilung und Entfremdungen, die zu Vorteilen und Gefahren des Kapitalismus führen, sind der Grund, warum die bürgerliche “Mitte” das Wort Solidarität entleert hat und nun versucht mit dem eigenen Egoismus zu füllen. Eine kritische Forderung wäre nicht diese Form gänzlich zu negieren, aber sie klug, nicht totalitär und egoistisch umzusetzen.

Geld statt Greta — mit maiLab in die vermarktbare Klimawandelkritik

Die Ideologie des Kapitalismus gerät mehr und mehr ins Kreuzfeuer der wissenschaftlichen Diskussion um den menschengemachten Klimawandel. Immer offensichtlicher wird, dass eine Ideologie, die auf Wachstum ausgerichtet ist, eine schlechte Grundvoraussetzung ist, wenn der Verbrauch gesenkt werden soll.
Eine Zusammenfassung der Diskussion von Aktivist*innen findet sich hier: https://alibi.noblogs.org/post/2019/03/14/no-future-for-capitalism/

MaiLab, die vielleicht schon mit ihren reaktionären Vorstellungen von Geschlecht aufgefallen ist, hat nun ein Video (Klimawandel: Das ist jetzt zu tun!) gemacht, in dem sie versucht die oben genannten Positionen zu leugnen und die unkritischen Positionen eines vielseitigen wissenschaftlichen Diskurses als „die Wissenschaft“ zu proklamieren. Was #dieWissenschaft zum Klimawandel zu sagen hat, reduziert sie in ihrem Video auf die Meinung eines Ökonomen, der die Möglichkeiten anpreist, Umweltverschmutzung den Marktlogiken zu unterwerfen. Warum er dies vorschlägt, liefert er gleich mit. Mit diesen Maßnahmen will er die Wirtschaft vor den Auswirkungen des Klimawandels schützen. Die Interessen von menschlichen und nicht menschlichen Individuen werden geleugnet und die Wirtschaft als einzige beachtenswerte Grundeinheit gesetzt. In Indien sind dieses Jahr bis Anfang Juni bereits 26 Menschen durch die Folgen des Klimawandels gestorben. MaiLab und ihre Darstellung sorgen sich um die deutsche Wirtschaft. 

MaiLab ist ein Angebot von funk. Es ist Teil des öffentlich rechtlichen Rundfunks, der in einigen Kreisen als DDR 2.0 und wirtschaftsfeindlich beschrieben wird.
Wirtschaftsfreundlicher, als in einem Kontermanöver wissenschaftliche Kapitalismuskritik zu leugnen und sogar den Klimaschutz Marktlogiken unterwerfen zu wollen geht es nun wirklich nicht.

Wie würde ein uns ans Herz gewachsener älterer gelber Herr dazu sagen? „Ausgezeichnet!“

Sachsen der Sündenbock?

Die Progrome der letzten Tage zeigen auch den Letzten wie aktuell das Thema Rassismus in unserer Gesellschaft ist. Doch die aus der Enttäuschung geborene Kritik greift zu kurz, mal wieder.

Schon seit Monaten, ja vielleicht Jahren, werden die öffentlichen Diskurse von Zuwanderungsthemen dominiert. Dabei wird häufig über die Methode gestritten, wie so genannte „Ausländer*innen“ identifiziert werden, besser germanisiert („integriert“), im System unsichtbar und am besten aus dem System ferngehalten werden können. In dieser Diskussion gehen wir (mich eindeutig eingeschlossen) den rassistischen Kräften viel zu oft auf den Leim. Wir übernehmen die Scheindebatten über sprachliche und methodische Umsetzung der gleichen Ideologien, wenn wir versuchen zwischen der Zuwanderungspolitik der AfD und der CDU zu differenzieren oder wenn wir uns über den Mob in Chemnitz empören, aber über die Praktiken von Frontex „sachlich“ diskutieren wollen.

Seit Jahren werfen die UN und NGOs wie Amnesty International den staatlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland einen strukturellen Rassismus bei Ämtern, Polizei und Politik vor. Die Antworten der Regierungsvertreter*innen können nur mit dem Begriff der Leugnung umschrieben werden. Entweder die Berichte werden wie 2015 ignoriert oder es wird, wie 2018, vom eigenen Rassismus auf den Rassismus in der Bevölkerung abgelenkt.

Spielen wir das Spiel nicht länger mit, bei dem AfD, Pegida und Neonazis so tun, als wären sie eine Opposition zum politischen System. Seit Jahren ist der geforderte Rassismus institutionalisiert. Seit Jahren wird das eh schon restriktive Asylrecht immer weiter beschnitten und die bereits realisierte „Festung Europa“ weiter abgeschottet.
Dafür sorgt nicht die AfD, nicht Pegida und nicht die Neonazis aus Chemnitz. Dafür sorgt die aktuelle Regierung, jede*r, der für sie ein Kreuz bei der letzten Wahl gesetzt hat und wir als Zivilgesellschaft, die weder Kreuze, noch Zäune, noch Todesstreifen, noch Ertrunkene verhindern konnte.

Gestritten wird nicht über die Praxis „Ausländer“ zu jagen, das macht der Staat selbst mit „racial profiling“ und Frontex. Gestritten wird auch nicht über die Ideologie der Differenzierung zwischen Mensch und „Äusländern“. Auch auf diesem Gebiet herrscht ein Konsens zwischen Regierungsparteien, AfD und Neonazis. Gestritten wird ausschließlich über die Aggressivität der Sprache und Methodik der Durchsetzung. Die aktuelle Diskussion heißt nicht Rassismus ja oder nein, sondern: Faust oder Tonfa, biologisierte Rassen oder Kulturkreise.

Nun ist natürlich die Frage nach Sprache und Methodik nicht zu gering zu bewerten. Es gibt wohl kaum etwas wichtigeres. Es würde das Ausmaß der physischen Gewalttaten relativieren, wenn ich nicht darauf aufmerksam machen würde, dass die Methodik und Sprache durchaus einen immensen Unterschied für die individuellen Opfer der rassistischen Gewalt machen kann. Wer das Problem Rassismus jedoch stoppen will, darf nicht nur über die Ausprägungen verhandeln, sondern muss ihm auf den Grund gehen: in Staat, Zivilgesellschaft und bei sich selbst. Dabei dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass es bei der Reproduktion des Konzepts (oder besser der Ideologie) Rassismus einen Konsens zwischen Regierung und der rechten Schein-Opposition gibt. Mit dieser Schein-Opposition führt die Regierung Scheindebatten, von denen wir uns nicht einlullen lassen dürfen.

Wo die echte Opposition gegenüber dem System steht, zeigte sich wieder in Chemnitz. Während emanzipatorischer Protest (z.B. in Wurzen oder in Hamburg) stets vom Staat eingeschränkt, klein gehalten oder diffamiert wird, lässt er rassistische Progrome gewähren.
Oder um es mit den Worten der Band Neonschwarz zu sagen:

„Dem Staat zu trauen, wäre dumm und ignorant.
Denn warum sollte er beschützen, was er selber nicht will.
Abschiebung, Frontex, Stacheldraht und Tod
Warum sollte er beschützen, was er selber killt?“