Der harte Boden der pandemischen Realität und der Fall aus der inszenierten Normalität

Die Entspannung der Coronasituation, das Ende der Pandemie und die Rückkehr zur Prä-Corona-Realität bestehen im Schein und sind die undialektische, gewaltvolle Antwort auf das Aufzeigen der Fragilität der westlichen Gesellschaften durch ein von jenen Strukturen bedingtes Virus. Die Gewalt zeigt sich dabei nicht nur auf struktureller Ebene, sondern entlädt sich auf jene Situationen, die den Schein infrage stellen und den Schleier der Negation omnipräsenten Wissens und individueller Erfahrungen durchbrechen.

Ungefähr seit dem Herbst 2021 erleben wir, dass das kollektive Narrativ des Ausnahmezustands in der bürgerlichen Gesellschaft in das Narrativ des Endes der Pandemie umschlägt. Gleichzeitig nimmt das Ausmaß an Studien und Wissen um das Virus zu, das in immensem Maße über die sozialen Medien und zunehmend auch über die bürgerlichen Medien Verbreitung findet. War Corona 2020 zunächst als Lungenerkrankung bekannt, die vor allem Älteren und Vorerkrankten schadet und gegen die Personen mit Infektion oder Impfung immunisiert werden können, gehört es 2022 zum omnipräsenten Wissen, dass es sich um eine Gefäßerkrankung handelt, die in noch nicht bekanntem Maße Immun- und Nervensystem aller Erkrankten langfristig schadet, Generationen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit demenz- und aidsähnlichen Symptomen produziert und dass eine Infektion nicht immunisiert, im Gegenteil eher mit jeder Infektion zu einem drastischeren Verlauf führt. Dazu gesellen sich bereits jetzt Erfahrungen von Long-Covid-Fällen aus dem eigenen Umfeld: die Erfahrung von chronischen Kopfschmerzen, Geschmacksverlust bis hin zu lebensverändernden Einschränkungen der Kondition in den 30ern. Die bürgerliche Gesellschaft produziert das, was sie am Besten kann: einen fundamentalen Widerspruch, der für uns alle seh- und spürbar ist. Den Widerspruch zwischen dem gewaltvollen Versuch der Wiederherstellung von Normalität und Wissen um die Kosten dieser Inszenierung. Dieser Widerspruch erzeugt eine Spannung in Gesellschaft und Individuum.

Die Existenz dieser Spannung lässt sich erahnen, wenn der gewaltvoll inszenierte Schein infrage gestellt wird: er entlädt sich in Aggression gegen die Infragestellung. Die Aggression wird dabei dezidiert nicht nur durch scheinbar moralische Imperative (z.B. Masketragen, Impfen, Indoorveranstaltungen meiden) ausgelöst, sondern allein durch das Ansprechen des Themas. Die fragile Scheinwelt wird allein durch das Aussprechen des Themas ins Wanken gebracht. Führt die (ideelle) Ansprache der Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft eher zu nicht ernstnehmender Belustigung, führt die Ansprache der Widersprüchlichkeit der pandemischen (kapitalistischen) Gesellschaft des Jahres 2022 und des omnipräsenten Wissens um das Virus unmittelbar zur Aggression und Emotionalität. Diese Aggression und Emotionalität sind Symptome der Anspannung und Anstrengung des bürgerlichen Subjekts, die pandemische Realität im Alltag mühsam und gewaltvoll leugnen zu müssen.

War die bürgerliche Gesellschaft 2020 noch von der Panik vor dem Virus paralysiert und bereit das Andere der eigenen Verwundbarkeit unterzuordnen, ist sie es nun von dem Wunsch die alte Gesellschaft im Schein wiederherzustellen. Den Punkt eines informierten, abwägenden gemeinsamen Entscheidens hat sie wie immer verpasst: im Kleinen, wie im Großen. Ein erster Schritt wäre es, den Austausch über die Pandemie wieder zuzulassen: in aller Ernsthaftigkeit und im Bewusstsein der vernichtenden Konsequenzen der Pandemie, ohne uns von den einfachen und undialektischen Antworten zufrieden zu geben. Die effekthascherische Auseinandersetzung mit ausschließlich einem Thema war dabei genauso mühsam, wie die kräfteraubende Unterdrückung eines Themas, das uns alle in jeder Minute unseres Lebens mit der Pandemie berührt. Covid is definitely not over und das wissen wir alle, unbewusst oder bewusst. Die Anstrengung im Umgang mit dem Thema ist nicht das Thema, sondern die mühsame Leugnung des für uns alle omnipräsenten Themas und das Aufbrechen des Scheins in Situationen der Infragestellung. Wenn wir diesen Widerspruch akzeptieren: den Wunsch nach einer “Normalität” und den Realitäten der Pandemie, dann können wir sehen, dass der Boden der Pandemie zwar hart ist, es sich jedoch deutlich entspannter auf einem harten Boden, als in der ständigen Angst vor dem freien Fall lebt.

Ich lade alle ein zu einem endlosen Picknick auf dem harten Boden. Die Partys, Kinobesuche, der Indoorsport, Konzerte, Teamevents und Restaurantbesuche hoch oben sind verlockend, aber von einer ständigen (unbewussten) Höhenangst begleitet und enden zwangsläufig mit einem vernichtenden Fall.

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