Vor ungefähr acht Monaten habe ich schon einmal über die Corona-Pandemie geschrieben. Seitdem hat sich im medialen, gesellschaftlichen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs eine Menge getan. In diesem Beitrag interessieren mich drei gesellschaftliche Themenfelder, für die die sogenannte Corona Krise verantwortlich gemacht wird: Gouvernementalität (Foucault), Bürger*innen als Leidende (Nietzsche) und die Blindheit für die Verletzlichkeit des Anderen in den neoliberalen bürgerlichen westlichen Gesellschaften. Im weiteren möchte ich auf drei miteinander verschwimmende exemplarische Gruppen eingehen, die zum Erhalt dieser gesellschaftlichen Strukturen beitragen. Die drei Gruppen werde ich modellhaft wie folgt einteilen: verschwörungsideologische Kritiker*innen der Coronamaßnahmen, neoliberale Kritiker*innen der Coronamaßnahmen, Befürworter*innen neoliberaler Coronamaßnahmen. Dazu sei gleich vorweg gesagt, dass diese Einteilung extrem überzeichnet ist. Es gibt wohl keine Person, die komplett einer dieser Gruppen entspricht und ich weiß auch nicht, inwieweit ich mich selbst als Teil dieser Gruppen beschreiben würde. Im letzten Teil “Technikkritik und Lösungen durch Technik” möchte ich für mich untypisch zumindest Lösungsansätze skizzieren. Aus bekannten Gründen meiner auf allen Ebenen privilegierten Position, halte ich nicht viel von “produktiver Kritik”. Auf vielfachen Wunsch, möchte ich dennoch einen Ansatz skizzieren.
Da der Beitrag sehr Komplex geworden ist, ist er in zwei Weisen lesbar: in der “Long Longread-Version”: im kompletten Text oder in der “Not even that long but also very Longread-Version”: in der die violetten, komplexeren Textteile in den ersten drei Teilen weggelassen werden können.
Gouvernementalität
Bereits im ausgehenden 20. Jahrhundert beschrieb der Philosoph Michel Foucault die Struktur der Macht, die in allen gesellschaftlichen Bereichen wirkt. Er beschränkt die Regierung der Gesellschaft dabei weder auf einen Vorgang, der von wenigen ausgeht, noch als einen, der nur wenige betrifft. In seinen Ausführungen beschrieb er, wie Gesellschaft sich selbst nach Machtstrukturen orchestriert und alle Lebensbereiche davon eingeschlossen werden und alle Teilnehmer*innen an der Re_Produktion von Machtverhältnissen beteiligt sind.
Ein wichtiger Teil dieser Erkenntnis ist die (Selbst)Disziplinierung, die bei Foucault eine große Rolle spielt. Diese Ausführungen wären im Spiegel der Pandemiemaßnahmen sicherlich sehr spannend, im Moment möchte ich den Fokus allerdings auf die rechtliche Dimension der Gouvernementalität legen. Für die deutsche Diskussion kann hier die umfassende Analyse “Kritik der Rechte” von Christoph Menke herangezogen werden. Menke expliziert in der Arbeit an einer Stelle Foucault, in dem er auf die zwei Seiten des subjektiven Eigenwillens eingeht. Dieser ist nach Menke die ‘Grundeinheit’ bürgerlicher, liberaler Gesellschaften: also auch des Deutschen Rechtssystems. Dieser subjektive Eigenwille muss stark vereinfacht in zwei Richtungen gedacht werden: dem “Willen nach Willkür” und dem “Willen nach sozialer Teilhabe”. Auf der einen Seite steht der Anspruch auf Willkür, als Person mit “natürlichem” individuellen Willen ein Anrecht auf rechtliche Verwirklichung dieses eigenen Willens zu haben. Auf der anderen Seite steht der Anspruch auf soziale Teilhabe, der meinen “natürlichen” individuellen Willen überhaupt erst voraussetzt und von diesem gebildet würde. Beide Teile widersprechen sich, sind jedoch Teile desselben Grundes: des Eigenwillens, auf dem wiederum das Recht fundamental gründet. Eine Vereinfachung dieser Analyse lässt sich in der Formulierung von Christoph Möllers finden: “In beiden Funktionen vereinzelt das Recht die Subjekte und separiert sie von der politischen Gemeinschaft. Beide produzieren je eigene Typen von Recht. Der besitzbürgerliche Eigenwille ist im Privatrecht [ausgedrückt]. Die lediglich parzellierte Teilnahme der vereinzelten Subjekte an der Gesellschaft wird im „Sozialrecht“ bestimmt, das der individuellen Willkür aber nur äußerliche Grenzen zieht. Beide haben das Potential, das jeweils andere zu kritisieren: Aus der Perspektive des Privatrechts ist das Sozialrecht unfrei, aus der Perspektive des Sozialrechts ist das Privatrecht unsolidarisch. Diese wechselseitige Kritik vermag das bürgerliche Recht aber im Kern nicht zu verändern, sondern fungiert gerade umgekehrt als Vehikel seiner Stabilisierung.”
So beschreibt Menke einen endlosen Kampf zwischen dem Eigenwillen der Willkür und dem Eigenwillen der sozialen Teilhabe, der immer neue und umfassendere Rechte produziert.
Was dieser Kampf nun mit Foucaults Gouvernmentalität zutun hat, beschreibt Menke selbst wie folgt: “Die Aufgabe seines [des bürgerlichen Rechts] Regierens ist unbegrenzt, weil die Form der subjektiven Rechte sich gegen sich selbst richtet: weil die eine Gestalt der subjektiven Rechte wieder auflöst, was die andere – im Namen desselben Prinzips: des subjektiven Eigenwillens – hervorbringt. Damit wird das Subjekt des Regierungshandelns, in dem immer neue Rechte erfunden werden müssen, um die freiheitszerstörerischen der alten, anderen Rechte aufzufangen. Das ist die Logik der bürgerlichen »Gouvernementalität« (Foucault): Weil sie die Regierung durch Rechte ist, regiert sie die Subjekte »durch den Vollzug [ihrer] Freiheit«. Es ist gerade die Freiheit seines Eigenwillens, die das Subjekt »in eminenter Weise regierbar mach[t]«. Das Subjekt des Eigenwillens ist der Regierung nicht entzogen, sondern ihr in eminenter Weise ausgesetzt; Es ist das Subjekt, das es nur durch die Regierung gibt – das regierbare Subjekt.” Genau diese niemals endende und alles regulierende Dynamik sehen wir gerade in der Diskussion um die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie in einem extrem beschleunigten Zustand. Sie steht aber eben nicht im Widerspruch zum liberalen Rechtsstaat, der jetzt angeblich durch Covid19 ausgehöhlt wird, sondern ist genau der Kern des Rechtstaats. Wenn die Eindämmung der Pandemie immer neue und noch mehr regulierende Novellen verlangt, dann nicht weil der liberale Rechtsstaat ausgehebelt wird, sondern weil er in seiner Form keine andere Option hat. Die sogenannte Auflösung von Grundrechten ist eine Fiktion, so zeigt uns Menke auch in seinem Buch, dass Grundrechte erstmal nichts weiter sind als die Formbestimmung des Rechts in der Form subjektiver Eigenrechte: also dessen, was ich oben beschrieben habe.
Das bürgerliche liberale Recht hat ein Ziel: die Verwirklichung des Eigenwillens jeder Bürger*in. Dabei gibt es ein Problem: der Eigenwille wird in zwei Weisen verstanden. Zum Ersten, als Wille zur Willkür in meinem privaten Bereich. Zum zweiten, als Wille zur sozialen Teilhabe im Zusammenleben mit anderen Bürger*innen. Beide Interpretationen des gleichen Eigenwillens, heben sich gegenseitig auf. Da beide Perspektiven auf den Willen gleichwertig sind, stehen sie in einem unendlichen Kampf, in dem immer wieder neue Gesetze erfunden werden müssen. So führt das bürgerliche Recht zwingend in eine Unfreiheit der Subjekte, die von immer neuen Gesetzen kontrolliert werden. Unter anderem dieses Phänomen nannte der Philosoph Michel Foucault Gouvernmentalität.
Covid19 ist ein Beschleuniger, nicht der Grund des alles regulierenden Staates und des regulierten Subjekts, der Gouvernmentalität. Es ist nicht das Handeln einzelner autoritärer Politiker*innen, das zur Ausbreitung des Staates und zur Regulierung der Subjekte führt, sondern der Kern des liberalen Rechtssystems, wie wir es kennen. Was in einigen ein Unbehagen auslöst und sich auf Covid19 projiziert, hat nichts mit einem Virus zutun.
Bürger*innen als Leidende
In diesem Abschnitt möchte ich erneut auf die Analyse Menkes eingehen. Ein weiterer wichtiger Punkt aus der “Kritik der Rechte”, den wir am Beispiel der Pandemieregierung deutlich sehen, sind seine Ausführungen zu Nietzsches Sklavenaufstand. Während die bürgerliche Erzählung zu den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts eine von der Freiheit aller (zunächst) Bürger (später in Teilen auch Bürgerinnen und inzwischen auch eines “Divers” als furchtbarer Versucht kritische Bewegungen zu determinieren) ist, gebraucht Nietzsche das Bild des Sklavenaufstandes. So ordnet er die Parteien in Handelnde (Herren) und Leidende (Sklaven / Knechte). Während die Handelnde selbst bestimmen kann, was gut und schlecht ist und somit moralisch urteilen darf, ist die Leidende nicht in dieser Position. Sie befindet sich in einer Position der Passivität. Das Anliegen der bürgerlichen Revolutionen war nach Menke und Nietzsche nicht, dass die Sklaven zu Handelnden aufsteigen wollten, sondern, als Leidende berücksichtigt zu werden. Die bürgerlichen Revolutionen etablierten, durch die Form der subjektiven Eigenrechte eine Gesellschaft, in der alle Bürger als Leidende, in der Passivität, berücksichtigt werden müssen. Nach Menke: “Das Subjekt des Rechts ist (und bleibt daher) ein Sklave; es definiert sich durch Inanspruchnahme und die Ausübung dieses Rechts als einen Knecht: als einen, der der Berücksichtigung bedarf. […] Durch das Recht eines jeden auch Berücksichtigung wird das Sein des Sklaven, seine Schwäche, nicht verwandelt, sondern verallgemeinert. […] Die Forderung danach, berücksichtigt zu werden, sagt nein zum Leiden. Sie sagt aber nicht nein dazu, ein Leidender zu sein. Die Position des Leidenden ist die der Passivität. Diese Position will die Forderung nach Berücksichtigung nicht abschaffen, sondern nimmt sie hin, ja setzt sie voraus und bestätigt sie damit.” Daraus folgert er: “Wenn aber nur soziale Teilnehmer politisch sein können – weil die Politik die Selbstregierung des Sozialen ist –, dann ist das Recht des Nichtteilnehmers auf Passivität zugleich ein Recht ohne Politik: ein unpolitisches Recht, ja, ein Recht gegen die Politik.” Um das noch kurz zum Ende zu führen. Dieser bürgerlichen Idee stellt Menke die kommunistische Idee, der “wahren Demokratie”entgegen. Während in der bürgerlichen Idee alle Bürger*innen zu Leidenden würden, würden in der “wahren Demokratie” alle Bürger*innen zu Herrschenden. Beide Ideen kämen nicht aus dem Leidens-/Herrschaftsdualismus hinaus.
Worauf ich in Bezug auf die Pandemiemaßnahmen eigentlich hinaus will, ist dass auch diese beschriebene Dynamik zur Zeit beschleunigt wird. Bereits vor der Pandemie war einsehbar, dass im bürgerlichen Rechtsstaat moralische Fragen mit gesetzlichen Fragen gleichgestellt wurden. Das moralisch Gute wird im bürgerlichen Rechtsstaat vom Recht festgelegt, die Leidende braucht und darf keine Werturteile darüber hinaus fällen. Gut ist, was legal ist. Was darüber hinausgeht ist eine Frage des Geschmacks. Ein treffendes Beispiel für Letzteres ist die Konfrontation zwischen pflanzlich basierter und omnivorer Ernährung. So ist es beispielsweise ein immer wieder gehörter Spruch “die Veganer*innen müssen unser Fleisch auf dem Tisch ertragen, weil wir ihr veganes Essen auch auf dem Tisch ertragen müssen.” Davon abgesehen, dass ich als vegan lebende Person das ertragen kann, wird hier die Gleichsetzung von moralischem Werturteil und Geschmack überdeutlich. Niemand tötet und isst ein Schwein aus einem Werturteil heraus, es ist immer eine Frage des Geschmacks. Umgekehrt ist die Entscheidung zu einer pflanzenbasierten Ernährung nahezu immer auch ein Werturteil, ob es nun auf richtigen oder falschen Schlüssen basiert, ist dafür erstmal hinfällig. Doch auch die Begrenzung von Werturteilen auf die individuelle Wahl zwischen Optionen in der Idee einer neoliberalen Tugendethik ist in der bürgerlichen Gesellschaft nicht von einer Frage des Geschmacks zu trennen. Für den Rechtsstaat sind beides gleichermaßen Anliegen der Leidenden, die verhandelt werden müssen. Das Gute spielt dabei keine Rolle. In der bürgerlichen Gesellschaft besteht nicht die Frage nach dem Richtigen, sondern ausschließlich nach dem Legalen und das richtet sich nach dem Gewollten. Was Richtig, aber nicht rechtlich erforderlich ist, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks. Das politische Werturteil wird zu einem persönlichen, subjektiven Urteil. Das Urteil wird immer subjektiviert: so das Credo der subjektiven Eigenrechte.
Durch die bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit haben sich die Bürger*innen selbst entrechtet, moralische Entscheidungen zu treffen. Im bürgerlichen Rechtsstaat hat diese Entscheidungsgewalt das Recht übernommen. Während andere Formen des Zusammenlebens Herrschende (moralisch Aktive) und Leidende (moralisch Passive) kennt, kennt der bürgerliche Rechtsstaat nur Leidende. Leidende sind unfähig selbst moralisch aktiv zu werden, die Frage nach der Moral ist ins Recht ausgelagert. ‘Gut ist, was legal ist.’
Diese Einsicht drängt sich bei den Maßnahmen gegen die Pandemie verschärft auf. Während sich die Einen moralisch erhöhen, weil sie legal im vierwöchigen Rhythmus zur Friseur*in gehen, täglich zum Sportverein fahren oder das Virus im Sommerurlaub nun vorbildlich nur in Deutschland oder in kleinen Städten mit wenigen Coronafällen verbreiten, werden Andere geächtet, wenn sie auf Parkbänken sitzen, mit Abstand im Freien in kleinen Gruppen Zeit verbringen oder in Berlin in einigen definierten Straßen auch in Einsamkeit den Mundschutz abnehmen. Der bürgerlichen Gesellschaft ist egal, was Richtig ist, sie interessiert sich nur dafür, was legal ist. Das ist keine Eigenheit einer imaginierten Coronadiktatur, sondern die Eigenheit des bürgerlichen Rechtsstaates, der auch im Umgang mit einer Pandemie wirkt, wie er immer wirkt. Es ist die einzige Form in der die bürgerliche Demokratie denkbar ist, keine Diktatur und keine DDR 2.0.
Blindheit für die Verletzlichkeit des Anderen
Bereits in meinem letzten Beitrag ging ich kurz auf das bürgerliche Unvermögen ein Solidarität zu denken, wobei ich Solidarität als Eintreten füreinander, also wirklich füreinander, verstehen würde. Dieses Unvermögen besteht in erster Linie in einer Blindheit für die Verletzlichkeit des Anderen. Während sich viele Menschen in Deutschland um sich selbst, die eigenen Angehörigen, das eigene Eigentum, das eigene Kapital oder ein “eigenes Volk” sorgen, gibt es eine Blindheit für die anonyme Masse derer die als die Anderen wahrgenommen werden: Gegenstände, Tiere, Mensche, Viren. Für das Eigene ist das alles erstmal eine potenzielle Masse an Bedrohung gleichen Ranges.
Der neoliberale Bürger nimmt nicht sich selbst als Gefahr für Andere wahr, sondern Andere als Gefahr für sich. “Jede ist ihres eigenen Glückes Schmied” und “Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt.” sind die zwei der wichtigen Mantren des homo capitalisticus, wie Bolívar Echeverría den Mensch des Kapitalismus nennt.
Daneben stehen die unhinterfragbaren Wahrheiten der bestehenden Wirtschaftsordnung. Jakob Augstein, bekennender Linker, hinterfragte seit der ersten Stunde die Pandemiemaßnahmen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft, da von ihr letztendlich auch ‘die einfachen Leute’ abhingen. Das Gruselige ist, dass er damit natürlich recht hat. Noch gruseliger erscheint jedoch, dass er damit nur in der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung recht hat und sogar selbstbezeichnete Linke das nicht einordnen können. In der Krise zeigt sich nur noch einmal mehr wie menschen- und lebensfeindlich die bestehenden Produktionsverhältnisse sind. Während die Einen um ihr Leben bangen müssen, weil sie als Risikogruppen von dem Virus besonders bedroht sind, müssen Andere um ihr Leben bangen, weil die Haushaltseinnahmen von den Maßnahmen bedroht werden, die nun das Existenzminimum unterschreiten. Sehr häufig fällt beides zusammen. Der zynische Gipfel des kapitalistischen individualistischen Systems ist, dass selbstverständlich auch jene Existenzängste haben, die materielles und soziales Kapital anhäufen, da das fragile kapitalistische System die Wachstumsimperative an alle stellt und bei Nichteinhaltung lebensbedrohlich wirken kann. Natürlich verzögert, natürlich anders, aber die Zwänge wirken auf alle. Davon abgesehen, ist uns allen bekannt, dass es auch in dieser Krise “Gewinner*innen” gibt, deren Gewinn vor allem im Verlieren der Anderen begründet ist.
Dass eine kapitalistische Ordnung, die uns in die Gegnerschaft zu allen anderen bringt und somit ein Anderes konstruiert, eben nicht naturgegeben und somit veränderbar ist, scheinen viele ausblenden zu wollen: zu Komplex scheinen die Konsequenzen. Gleiches gilt für das kapitalistische Symbol des Geldes. Neben allen positiven Aspekten von Währungen und ohne sie zwingend für überholt zu halten, müssen wir doch eines festhalten: es bleibt ein von Menschen erdachtes Konzept und ist damit veränder- und kritisierbar. Mit diesem Hintergrund scheint es absurd, dass die Bloße Vermehrung von Geld in der Konkurrenz zum Überleben von Menschen stehen kann: im Kapitalismus ist aber genau das die Tagesordnung, auch das kehrt die von Ökonom*innen sogenannte Krise hervor.
Die Auswirkungen sind uns bekannt. Während das Arbeitsleben nahezu ungebremst weitergeht, wird das politische und private Leben repressiv eingeschränkt, berechnen Wirtschaftsinstitute, wie groß die Reproduktionsrate sein muss, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland keine Einbußen hat. ‘Man nehme Variable X: ausfallende Konsum- und Arbeitskräfte durch Krankheit und Tod und setzte sie ins Verhältnis zu Variable Y: ausfallende Konsum- und Arbeitskräfte durch Lockdown. Gesucht ist R, bei dem das Wirtschaftswachstum am größten bleibt: Ergibt: Lockdown light.’ Die Folge: tausende Tote durch das Virus. Nicht, weil sich Lobbys durchsetzen oder wir von korrupten Politiker*innen regiert werden, sondern weil dies die Funktionsweise einer kapitalistischen Gesellschaft ist. In der kapitalistischen Gesellschaft ist es undenkbar, dass Gesundheit oder Leben über Profit stehen könnten.
Wer diese Toten sind steht in der neoliberalen, bürgerlichen Gesellschaft auch fest. Während Weiße Akademiker ohne Probleme ins Homeoffice gehen oder mit dem Auto in die Einzelbüros fahren können, müssen Arbeiter*innen weiter in volle Fabriken, vorwiegend Frauen weiter in den sozialen Berufen mit anderen Menschen in den persönlichen Kontakt treten und meist BIPOC-Personen weiter die Dinge bis zur Haustür liefern, für die der Weißen Gesellschaft der Gang ins Geschäft zu gefährlich ist. Bereits in der Anfangszeit der Pandemie griff Paul B. Preciado im Postskriptum seiner als Buch (Ein Apartment auf dem Uranus) veröffentlichten Essays den Vergleich mit Foucaults Beschreibung der historischen Pestregime in “Überwachung und Strafen” auf. Die Beibehaltene Strategie “exklusive Inklusion”. Der Vorteil im Neoliberalismus: Die Funktion der Privilegierten als Konsument*in bleibt erhalten, gefährdet wird nur das Andere. Während der beachtenswerte Bürger in seiner Wohnung eingeschlossen bleibt, wird er von (BIPOC)-Arbeiter*innen versorgt. Dem beachtenswerten Bürger als nicht nützlich geltende Entitäten werden in Lager ausgesperrt, der Vernichtung preisgegeben oder selbst vernichtet.
Mit der Referenz auf Preciado möchte ich dann auch wieder zurück zum Anfang meiner Ausführungen: zur Verletzbarkeit des Anderen kommen. So beschreibt er in seinem Beitrag sehr klar, dass das Subjekt, das nur in der eigenen Verletzbarkeit denkt, das neoliberale bürgerliche Subjekt auch nur eine Notfallstrategie zur Eigensicherung kennt: Abschottung. Was das Mittel der Problemlösung an EU-Außengrenzen, bei der Schweinepest an Nationengrenzen, bei Einbruch durch Menschen oder Interessenkonflikten mit Tieren am Gartenzaun oder im Straßenverkehr der SUV ist, übernimmt im Fall von Covid19 die FFP2 Maske mit Ventil. Die Interessen Anderer spielen für das neoliberale bürgerliche Subjekt keine Rolle. Mit Preciados Worten: “Covid-19 hat die Grenzpolitiken, die früher auf nationalem oder auf dem supranationalen Territorium Europas zum Einsatz kamen, auf die Ebene des individuellen Organismus verlagert. Der Körper, dein individueller Körper, als Lebensraum und als Machtgefüge, als Zentrum der Produktion und des Energieverbrauchs ist zu einem neuen Hoheitsgebiet geworden, auf dem nun gewaltsame Grenzpolitiken, die wir seit Jahren gegenüber »den Anderen« entwickelt und erprobt haben, in Gestalt von Maßnahmen der Abschottung und des Krieges gegen das Virus zum Einsatz kommen. Die neue nekropolitische Grenze hat sich von den griechischen Küsten an die heimische Wohnungstür verlagert. Lesbos beginnt jetzt auf deiner Schwelle. […] Die neue Grenze ist deine Maske. Die Luft, die du atmest, soll jetzt dir allein gehören. Die neue Grenze ist deine Epidermis. Das neue Lampedusa ist deine Haut.” Einen längeren Auszug aus dem Artikel gibt es hier.
Schulen nehmen in dieser Diskussion eine Sonderstellung ein. Sie sorgen nicht direkt für eine Vermehrung von Kapital, aber sie haben unverzichtbare Funktionen für den kapitalistischen bürgerlichen Staat: Qualifizierung und Disziplinierung (mehr dazu bei Althusser und Foucault). Das ist der Grund, warum Schulen als treibende Kraft der Pandemie von der bürgerlichen Gesellschaft, neben dem Kapital, im Ausnahmezustand nicht angetastet werden.
Die Pandemiemaßnahmen der bürgerlichen, rassistischen, patriarchalen Gesellschaft richten sich danach Sicherheit für die Privilegierten zu garantieren. Sie richten sich nicht nach den Marginalisierten (das Andere) aus, sondern wälzen das Risiko an der Pandemie zu erkranken umgekehrt auf sie ab. Während vorwiegend Weiße Akademiker im Homeoffice oder im Einzelbüro sitzen, werden ihre Konsumgüter von Arbeiter*innen in Fabriken produziert, von BIPOCs (Black, Indigenous and People of Color) zu ihnen geliefert und ihre Angehörigen von vorwiegend nicht cis-männlichen Personen versorgt. Freizeitaktivitäten werden weitgehend verboten, Produktionsmittel und Vermehrung von Kapital rechtlich nicht eingeschränkt. Danach richtet sich auch das Narrativ dieser Gesellschaft: der Arbeitsplatz und die Familie sind sichere Umgebungen, Freund*innen, Parties und öffentliche Verkehrsmittel sind Feindesland.
Was ich mit meinen Ausführungen zeigen wollte: keine der beschriebenen Phänomene stehen im Zusammenhang mit dem Virus: weder die Gouvernementalität, noch die Leidenden Bürger*innen, noch die Blindheit für das Andere. Sie alle sind integraler Bestandteil der neoliberalen, bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind weder auf eine Gruppe von Verschwörer*innen zu reduzieren, noch auf Politiker*innen, noch auf Korruption, noch auf Denunziant*innen in der Bevölkerung, noch überhaupt auf einen Teil der Gesellschaft. Wir, alle Teilnehmer*innen, re_produzieren diese Ideen mit unseren Handlungen. Jeder dieser Aspekte wird in den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und dem gesellschaftlichen Umgang wirksam, sie sind aber eben kein Ergebnis der Pandemie, sondern die Pandemie ist lediglich ein Katalysator von vielen der diese Vorgänge maximal beschleunigt. Diese Feststellung führt mich zur Skizzierung der drei wichtigen gesellschaftlichen Umgangsformen mit der Pandemie, die diese Formen der Regierung, Strukturierung und Gewalt verfestigen. Wie gesagt: alle drei sind überspitzte Modelle und so in der Realität wohl nicht oder nur selten anzutreffen.
Verschwörungsideologische Kritiker*innen der Coronamaßnahmen
Die wohl am meisten gehörte Bewegung der Kritiker*innen an den Coronamaßnahmen sind die Querdenken Demos. Wer sich diese Demos genauer anschaut, kommt nicht daran vorbei sich auch die Analysen zu Pegida noch einmal genauer anzusehen. Querdenken und Pegida funktionieren im Kern genau gleich. Es gibt einen Anlass, zu dem jegliche komplexe Kritik zu einer unterkomplexen Verschwörungserzählung umgedreht wird, bei der einfache Feindbilder gefunden und als Störer*innen in einem sonst gut funktionierenden System identifiziert werden. Waren sich die Anhänger*innen von Pegida 2015 noch sicher sie würden gegen einen von Verschwörer*innen organisierten “Strom von Geflüchteten” ankämpfen, der “das Deutsche Volk” ersetzen soll, ist sich Querdenken nun sicher, dass Verschwörer*innen “das Deutsche Volk” mit Pandemiemaßnahmen mundtot machen wollen, der Lockdown zum Trinken von Kinderblut (Kindsmord Legende) genutzt wird oder eine Diktatur errichtet würde. Wer die Verschwörer*innen sind, bleibt bei Querdenken implizit. Es lohnt sich jedoch dafür die vergangenen offen getätigten Kooperationen von Querdenken Anmelder Michael B. mit Holocaustleugner*innen zu betrachten. Auch wenn sich Michael B. im nachhinein unter anderem vom Youtuber Nicolai N. distanzierte, ist die Sympathie für dessen Thesen offensichtlich. So distanzierte sich Michael B. medienwirksam in einem Interview scheinbar spontan, nachdem er von dem Inhalt dessen Rede bei der Querdenken-Demonstation “erfuhr”. Der Inhalt der Rede ist aber kaum drastischer, als der sonstige Inhalt von Ns YouTube Kanal. Nun ist die ewige Ausrede, dass sich Michael B. nicht mit Nicolai Ns YouTube Kanal beschäftigt haben muss, bevor er ihn in Vorbereitung zur Organisation der Demos nach eigenen Angaben ‘mehrfach zum Grillen’ getroffen hat.
Diese Argumentations- und Verteidigungsstrategie nervt mich langsam genauso, wie die, dass die Demonstrant*innen nicht wüssten, auf wessen Demonstration sie gingen und welche Ziele diese habe. Wenn Anmelder*innen nicht dafür zurechenbar sein sollten mit wem sie zusammen Demos organisieren und Demonstrationsteilnehmer*innen nicht dafür zurechenbar sind, auf wessen Demos sie gehen, können wir die Projekte Demokratie und Verantwortung abblasen. Wer das behauptet, argumentiert tatsächlich für eine Diktatur. Meiner Meinung nach ist es Menschen zumutbar, dass sie wissen, auf welchen Demonstrationen sie unterwegs sind und dabei geht es nicht um einige “rechtsextreme Störer*innen”, sondern um die Anmelder*innen, deren Ziele, Ansichten und Netzwerke.
Ich muss bei dieser Argumentation in letzter Zeit tatsächlich immer wieder an das Flash-Video “Lamas mit Hüten” denken, das in meiner Schulzeit aktuell war. Die Pointe des Videos steckt darin, dass das Lama Karl zunächst abstreitet, einen Menschen getötet zu haben. Im Laufe des Gespräches stellt sich heraus, dass Karl zwar dem Mensch 38 mal mit einem Messer in die Brust gestochen hätte, er aber nicht gewusst habe, dass diese Handlung Menschen töte. Im Video hat es das Lama tatsächlich nicht gewusst (was der Witz ist), in der Realität würden wir jedoch den wenigsten Person diese Ausrede abnehmen. Im Falle der Corona-Demonstrationen (und auch bei AfD und Pegida) wird diese Argumentation jedoch regelmäßig bedient.
“Kaaaaarl, auf die Querdenken Demos zu gehen, die klar durchweg Verschwörungserzählungen reproduzieren und offen mit Holocaustleugnern gemeinsam organisiert wurden, unterstützt den Antisemitismus…”
“Uhhh…. Ohhh … Das wusste ich nicht.”
Zusammenfassend lässt sich über Querdenken eines sagen. Die Demons haben nichts mit Corona und der Gegenwehr gegen eine “Abschaffung des Rechtsstaates” zutun, das Gegenteil ist der Fall. Ähnlich wie es Pegida nie um etwas anderes als die Normalisierung rassistischer Erzählungen ging, geht es Querdenken und den Demonstrant*innen, die sich damit identifizieren ausschließlich um die Verbreitung von Verschwörungserzählungen, die fast durchgängig in bestimmten Formen antisemitische Narrative re_produzieren. Corona und die Maßnahmen sind ein Anlass für diese Erzählungen: kein Grund. Besonders deutlich wird das bei den geforderten Maßnahmen, die irgendwie immer mit der “Abschaffung” einzelner Personen (den Verschwörern und ihren Marionetten) endet und nie über Strukturen redet.
Das ist wichtig beim Umgang: es geht nicht darum die Demonstrationen zu entlarven (alle die auf diesen Veranstaltungen sind teilen die Ideen des Anmelders oder billigen sie) oder über Coronamaßnahmen zu sprechen, darum geht es auf diesen Demos nicht, sondern sich mit den Gefahren und Problemen von Verschwörungserzählungen und Antisemitismus zu beschäftigen.
Übrigens: was bei Pegida schon wichtig war – Nur weil alle Demonstrant*innen von Querdenken diese antisemitischen Anklänge beim Anmelder teilen, heißt es nicht, dass sie sich dessen bewusst sein müssen und das reflektiert haben. Eine andere bürgerliche Entpolitisierungsstrategie bei Pegida und Querdenken ist es zu sagen “Die wissen das doch gar nicht, dass das antisemitisch (oder eben rassistisch) ist, was sie da erzählen.” Ich kann auch einen Laptop bedienen, ohne zu wissen, wie er funktioniert. Ich gehe einkaufen und reproduziere so das kapitalistische System ohne wirklich zu wissen, wie es im Innern funktioniert. Nur weil jemand etwas nicht reflektiert, bedeutet es nicht, dass jemand etwas nicht tut oder bedient.
Neoliberale Kritiker*innen der Coronamaßnahmen
Neben den verschwörungsideologischen Kritiker*innen der Coronamaßnahmen, gibt es auch eine Menge an Kritik, die sich neoliberal begründet. Ein gutes Beispiel sind hier die Demonstrationen von neoliberalen Künstler*innen, Kulturschaffenden und der Gastronomie. Während viele Verschwörungsideolog*innen die Existenz von Covid19 komplett leugnen, verharmlosen oder, der Brunnenvergiftung gleich, einer Gruppe von Menschen zusprechen, leugnet diese Gruppe nicht die Existenz des Virus. Diese Gruppe stellt sich auf eine andere Weise gegen ein solidarisches Miteinander. So sehen sowohl die Forderungen der Gastronom*innen als auch die der großen Demonstrationen der Kulturschaffenden keine finanziellen Hilfen oder Ausgleichszahlungen vor, oder zumindest sind sie nicht die Kernanliegen, sondern es geht darum wieder öffnen oder spielen zu dürfen wie bisher. Während die Coronamaßnahmen scheinbar ausschließlich den Risikogruppen nützen, würde ein Großteil der Bevölkerung unter ihnen leiden. Wir erinnern uns an die Rechnung der Wirtschaftsinstitute: wie viele Menschen müssen sterben, damit die Gastronomie weiter wachsen kann? Auch in diesen Demonstrationen geht es im Kern nicht um Coronamaßnahmen, sondern um die Re_produktion eines neoliberalen Narrativs in einer schon neoliberalen Kulturszene. Während die von der Pandemie Benachteiligten: Risikogruppen, Personen in Gefängnissen, Krankenhäusern, Personen in Lagern oder einfach im gesundheitlich teilweise noch schlechter versorgten Ausland ins Andere imaginiert werden, wird sich für den finanziellen Profit durch Arbeit der Kulturschaffenden eingesetzt. Die zynische Argumentation: wenn mit Flugzeugen geflogen werden darf, muss auch Theater gespielt werden dürfen. Die umgekehrte Argumentation, wenn nicht Theater gespielt werden sollte, sollte auch nicht geflogen werden ist für dieses neoliberale Weltbild nicht denkbar. Dabei geht es nicht darum, dass Kulturschaffende und Gastronom*innen nicht flächendeckend von den Maßnahmen besonders betroffen sind, während beispielsweise Amazon und Vermieter*innen Rekordumsätze machen, zumindest keine Verschlechterung merken oder riesige Unternehmen ihre imaginierte Macht der großzügig angebotenen Arbeitsplätze nutzen, um sich Rettungsschirme zu erpressen. Doch die Lösungen der großen Vertreter*innen dieser Kritiker*innen sind keine Umverteilung, keine Utopie, kein System, das diese Widersprüche auflöst, sondern die Antwort ist ganz plump: “Wir wollen auch wieder öffnen dürfen”. Es ist keine Neuheit, dass der Kapitalismus immer wieder Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Menschen Re_Produziert. Es gibt viele Antworten auf dieses Problem: die Proklamation neoliberaler Gedanken: wie ‘wir müssen von Natur aus Arbeiten um Leben zu können’ oder ‘Produktive Arbeit ist ein Grundbedürfnis’ sind keine davon. Sie verfestigen ausschließlich die Systeme, die den Interessenkonflikt zwischen Einnahmen der Einen und Überleben der Anderen als naturgegebenen Kampf inszenieren.
Befürworter*innen neoliberaler Coronamaßnahmen
Wie ich in den ersten drei Teilen zeigen wollte, produzieren die Pandemiemaßnahmen die Probleme, die der bürgerlichen neoliberalen Gesellschaft inhärent sind. Gleichzeitig produziert die bürgerlich neoliberale Gesellschaft auch Pandemiemaßnahmen, die diesen Logiken inhärent sind. Theater haben zu, Shoppingmalls haben geöffnet. Treffen im Freund*innenkreis draußen und mit Abstand ist verboten, Fabriken und Labore laufen ohne Abstände wie gewohnt weiter. Einsame ältere Menschen dürfen nicht besucht werden, während für Vermehrung des Kapitals geschuftet werden muss. Friseur*innen haben geöffnet, während politische Kundgebungen und Solidarität nur unter Vorbehalt möglich sind.
Während die Kritiker*innen der Coronamaßnahmen durch das Virus direkt ausgelöstes Leid zum Vorteil ihres Volkes (Verschwörungsideologien) oder des Kapitals (neoliberale) billigend in Kauf nehmen, nehmen die unkritischen Befürworter*innen der Pandemiemaßnahmen die menschenfeindlichen und neoliberalen Auswirkungen dieses Systems in Kauf und re_produzieren sie. Entsolidarisierung, Vereinzelung, die Blindheit für das Andere, passive und unpolitische Bürger*innen und eine fortschreitende Gouvernmentalität sind die Folgen. Auch diese Gruppe schreibt ein System fest, das Menschenleben im Sinne größerer Ziele opfert.
Alle drei der benannten Gruppen leugnen die Gewalt und die Unterschiede, die die bestehenden Systeme re_produzieren. Mögliche Probleme werden auf die jeweils anderen Gruppen (oder eine Gruppe von Verschwörer*innen) ausgelagert und in diese projiziert. Während für die Verschwörungsmytholog*innen die neoliberalen Befürworter*innen, die Schlafschafe, schuld am Leid “ihres Volkes” sind, versuchen sich die neoliberalen Kritiker*innen von beiden anderen Gruppen abzuheben: die einen sind die Spinner, die mit ihren Aktionen überhaupt erst die Pandemie soweit vorangetrieben haben, die Anderen sind die unsolidarische Masse. Für die Gruppe nummer drei sind natürlich alle, die Kritik an den Coronamaßnahmen haben schuld an dem Verlauf der Pandemie, sowie jene, die nicht alle Maßnahmen immer befolgen, ungeachtet der jeweiligen sozialen Positionen und Zwänge. Die Probleme, die den Systemen inhärent sind, werden von allen drei Gruppen ignoriert und somit von ihnen abgelenkt beziehungsweise verfestigt. Alle drei Gruppen unterscheiden sich stark in ihren Ausprägungen, aber sie haben im Kern eine Gemeinsamkeit: sie alle blenden die Probleme aus, die dem System inhärent sind. Fehler werden immer bei Einzelpersonen gesucht oder aus dem System ausgelagert. Für die einen sind es die Reichsbürger*innen, die keine Masken tragen, für andere korrupte Politiker*innen und für wieder andere eine Gruppe jüdischer Verschwörer*innen. Einer ernsthaften und fundamentalen Kritik, will sich keine dieser Gruppen stellen. Zusätzlich habe ich im persönlichen Umfeld das Gefühl, dass alle drei Gruppen sich von einer argumentativen Auseinandersetzung verabschiedet haben: einfache Feindbilder ersetzen die kritische Debatte.
Technikkritik und Lösungen durch Technik
In beiden skizzierten Gruppen der Kritiker*innen der Pandemiemaßnahmen findet sich eine pauschale und fundamentale Technikkritik. Bei den Verschwörungsmytholog*innen zeigt sich das sehr deutlich bei der Kritik der “Schlafschafe vor ihren Bildschirmen”, die Angst vor einer digitalen Diktatur oder auch das Feindbild 5G Technik. Den Grund dafür finden wir erneut in Preciados Text. Denn wie Preciado analysiert, ist die Technik der Regierung, die einzige Minimale Veränderung zwischen vorherigen Expansionen des bürgerlichen Rechtsstaates und der gerade Ablaufenden. Gleichzeitig ist Technik die einzige Möglichkeit das Aufhalten der Pandemie nicht in einem neoliberalen “social distancing”, sondern in einem emanzipatorischen “physical distancing” zu denken. Während sich bei den beiden genannten Formen der Maßnahmenkritik auch esoterische Strukturen (die Verbindungen zwischen völkischen und esoterischen Ideen sind vielfach aufgezeigt worden: im deutschsprachigen Raum sind zu diesem Thema wohl die Schriften von Jutta Ditfurth zu nennen) und pauschal technikkritische Ideen etablieren konnten, lässt sich Technikkritik weniger zynisch und emanzipatorisch denken. Denker*innen in der Tradition Donna Harraways haben begriffen, dass Technik (und Wissenschaft) immer in Machtgefügen entstehen. Ja, unsere Techniken, die wir verwenden und auch die digitalen Techniken sind patriarchale, rassistische, neoliberale Systeme. Sie sind in patriarchalen, rassistischen, neoliberalen Machtgefügen, mit den Mitteln der Privilegierten erdacht, konstruiert und reproduziert worden. Sie stützen diese Machtstrukturen. Ursache für die Re_Produktion der Machtstrukturen durch die Technik ist allerdings nicht die Technik, sondern die Machtstruktur. Digitalisierung “aufhalten” (so es denn möglich wäre), würde an den Machtstrukturen nichts verändern, sondern ausschließlich an den Techniken, mit denen sie Re_Produziert würden.
Paul B. Preciado und andere rufen daher nicht zu einer Umkehr auf, sondern zum Nutzen der Technik zu sogenannten Kontrapraktiken: die Machtgefüge mit ihren eigenen Techniken bekämpfen. In diesem Sinne kann ich auch nur zu digitalen und analogen Kontrapraktiken aufrufen. Pandemie ernstnehmen, gleichzeitig digital und analog Kontakt suchen, wo anderen nicht geschadet wird. Ohne Risiken der Übertragung, ohne Orte der Begegnung können viele diese Pandemie nicht überstehen. Die neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Gesellschaften lagern die Risiken der Ansteckung mit Covid-19 auf Arbeiter*innen, Nicht-cis-Männer und BIPOC aus, gleichzeitig werden die Risiken durch fehlende Kontakte und Solidarität auf diese und weitere Gruppen (Geflüchtete, nichtmenschliche Tiere) ausgelagert. Digitale Kontrapraktiken können uns helfen beidem entgegenzuwirken. Die Lösungen können nicht in einer imaginierten, konstruierten, biologisierten und romantisierten Natur liegen, in deren Namen Millionen Leben einer Krankheit geopfert werden und so lebenswertes von nicht lebenswertem Leben getrennt wird. Sie kann aber auch nicht in einer neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Start-Up Technikromantik oder in neoliberalen, patriarchalen und rassistischen staatlichen Institutionen liegen, deren Glaubenssätze jeden Tag Gewalt und Tod re_produzieren. Demgegenüber stehen extrem vielfältige Formen von emanzipatorischen, digitalen und analogen Kontrapraktiken, die wir zu großen Teilen erst noch entwickeln müssen.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist das Training eines Blickes für das Andere, um zu sehen, was strukturell ausgeblendet wird. Ziel ist das aktive Bewusstmachen derer, denen bestehende Systeme und auch eigene Handlungen innerhalb von Systemen schaden. Statt nur an die eigene Gesundheit im Blick zu haben, was der normale Blick der bestehenden Machtsysteme wäre, bedarf es dessen die Gesundheit der Anderen im Blick zu haben. Statt von der Verletzlichkeit der eigenen Gesundheit auszugehen, die Verletzlichkeit der Gesundheit des Anderen fokussieren. Wir müssen uns dessen bewusst machen, dass wir nur in der Abhängigkeit zu anderen Leben können und nur Leben können, wenn wir uns anderen und den Risiken, die damit einhergehen ausliefern. Die bestehenden Systeme geben vor wen wir wann gefährden, wem wir uns ausliefern und welche Fremdbestimmung uns zu Subjekten macht. Sie bestimmen, welche Orte des Zusammentreffens uns konzipieren und zu welchen Konditionen sich Subjekte einander ausliefern können und das eben nicht nur in der Pandemie, sondern kontinuierlich und immer.
Ein sehr individueller Ansatz (nicht die Lösung) kann es sein das in den Blick zu nehmen, was in dieser konstruierten Welt der Abhängigkeiten abhanden kommt: das Andere. Während uns dieses System einredet, dass wir unsere Gesundheit und maximal die Gesundheit unserer Großeltern in den Blick nehmen sollen, können wir uns bewusst die Gesundheit der Großeltern der Paketbot*in, der Pizzalieferant*in, der Laborarbeiter*in oder der Bewohner*innen der vielen Lager, Gefängnisse und Sozialeinrichtungen in den Blick nehmen. Statt nur im Eigenen zu denken können wir versuchen den Blick zu verändern und im Anderen zu denken und handeln. Das scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein, in Systemen, die kontinuierlich das Gegenteil von uns verlangen, doch ist es auch der einzige Weg der uns bleibt.
Wir müssen einen solidarischen und politischen Umgang miteinander finden, besonders in der Pandemie. Ich habe versucht zu zeigen, dass dieser in den bestehenden Systemen und auch mit den medial groß gemachten kritischen Strömungen nicht möglich erscheint oder auch klar nicht gefordert wird. Mögliche kritische Ansätze haben für mich drei Voraussetzungen, von denen ich einen implizit und zwei explizit skizzierte:
- Die Corona Pandemie mit all ihren weitreichenden Auswirkungen und Konsequenzen für Personen ernstnehmen.
- Lösungen für einen politischen Umgang mithilfe digitaler und analoger Kontrapraktiken zu den bestehenden neoliberalen, bürgerlichen, patriarchalen, rassistischen Praktiken und Strukturen entwickeln.
- Als Maßstab für die Praktiken die Verletzlichkeit ‘des Anderen’ als wichtigste Bezugsgröße nehmen.
Frohe Weihnachten!
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